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PolitReflex Monatsbrief April 2024

Europäische Menschenrechtskonvention / Europainitiative / Neutralitätsinitiative / Rechtsstaat und Populismus

Am 28. November 2024 jährt sich zum 50. Mal das Inkrafttreten der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) in der Schweiz. Dies wird Anlass sein, die Bedeutung der EMRK und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) für die Schweiz und für Europa in einer Gesamtschau zu beurteilen und zu würdigen. Der Europarat ist Träger der EMRK und des EGMR. Als Mitglied des Europarats trägt die Schweiz Mitverantwortung für die vergangene und künftige Entwicklung der Konvention, der durch sie garantierten Rechte und ihres Gerichts. Sie stellt nicht nur einen Richter oder eine Richterin, sondern auch ein Mitglied und eine/n Delegierte/n des Ministerkomitees.

Der EGMR ist kein “fremdes” Gericht, sondern ein gemeinsames Gericht der Mitgliedstaaten des Europarates.

Kürzlich hiess der EGMR eine Klage des Vereins der Schweizer “KlimaSeniorinnen” gut: Die Schweiz verletze Artikel 8 der EMRK, da sie zu wenig unternehme, um ältere und alte Frauen vor Gesundheitsschäden und vorzeitigem Ableben infolge der Hitze zu schützen, die die Klimaerwärmung verursache. Sogleich lösten zwei Kräfte gemeinsam einen Proteststurm aus:  Die Gegnerschaft stärkerer Massnahmen gegen die Klimaerwärmung und die Gegnerschaft europäischer und internationaler Gerichtsbarkeit. Das Urteil soll Letzteren sogar dazu dienen, die “Bilateralen III” zu verhindern: Es zeige, wie es sich auswirken könne, wenn sich die Schweiz einer europäischen Gerichtsbarkeit unterziehe.

Die FDP-Liberalen fordern nun “ein neues Zusatzprotokoll, das die EMRK stärkt, indem es den EGMR an seine Kernaufgabe bindet. Hingegen lehnt die FDP einen Austritt aus der EMRK ab, da sie – richtig angewandt – einen wertvollen Beitrag zum Schutz der Menschenrechte in Europa darstellt”. Diese Forderung basiert darauf, dass der Gerichtshof nicht – wie mitunter behauptet wird – “allmächtig” ist: Den Mitgliedstaaten des Europarates kommt die Funktion einer Legislative zu.

Wenn jemand, der mit den – auch in der Schweiz – anerkannten richterlichen Funktionen der Auslegung und der Rechtsfortentwicklung nicht vertraut ist, nun den Vorwurf erhebt, das Klimaurteil gehe über den Wortlaut von Artikel 8 Absatz 1 der EMRK hinaus, ist dies verständlich. Die Bestimmung lautet: “Jedermann hat Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs”. Das Urteil war jedoch nicht unvorhersehbar. Das Gericht leitete aus Artikel 8 schon bisher Schutzrechte ab, und das Ministerkomitee wusste davon, denn es ist zuständig für die Umsetzung der Urteile.

“Anspruch auf Umweltschutz”: Unter diesem Titel lesen wir in der 2020 erschienenen dritten Auflage des “Handbuchs der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK)“, eines Standardwerks des Schweizer Juristen Mark E. Villiger, vormals Richter am EGMR, nominiert durch das Fürstentum Liechtenstein: “Die durch Art. 8 geschützte freie Lebensgestaltung kann durch Immissionen unmöglich gemacht werden. Hier finden sich Ansatzpunkte für eine positive Pflicht des Staates, schädliche Immissionen einzuschränken. Namentlich können schwerwiegende Umweltbeeinträchtigungen das Wohlbefinden von Personen und die ungestörte Ausübung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens sowie der Wohnung gemäss Art. 8 beeinträchtigen.” (Siehe auch die Erläuterungen dieses Urteils, die ich für “Unser Recht” geschrieben habe.)

Der EGMR kann sich nicht über die demokratischen Verfahren der Mitgliedstaaten stellen. Es muss es ihnen überlassen, die Wege zu finden, auf denen sie aus einem als menschenrechtswidrig beurteilten Zustand hinausfinden. Keine Volksabstimmung wird wegen dieses Urteils ausbleiben, und kein negativer Volksentscheid kann missachtet werden. In Klimaschutzkreisen löste das Urteil Euphorie aus. Diese kann leicht in Enttäuschung übergehen – wie auch die Euphorie bei der Gegnerschaft europäischer Rechtssetzung und Gerichtsbarkeit. Zu erwarten ist jedoch, dass künftig auch gegen andere Mitgliedstaaten des Europarates Klimaschutzklagen erhoben werden, denn der EGMR fällte ein Grundsatzurteil.

“Nur die EMRK schützt in der Schweiz vor menschenrechtswidrigen Gesetzen” (Link)

“Richterinnen und Richter: Klärende Diskussion über ihre Aufgaben nötig” (Link)

“Klimaerwärmung: Vertrauen in die Wissenschaft wieder stärken” (Link)

Die weiteren hier beigefügten PolitReflexe von April 2024 betreffen die Beziehungen Schweiz-EU, die europäische und schweizerische Sicherheitspolitik und den Schutz des Rechtsstaats vor Populismus und politischer Einflussnahme:

“Die Europainitiative ist nötig und verdient unsere Unterstützung” (Link)

“Der Fall ‘Stahl Gerlafingen’ zeigt, dass ein Schiedsgericht nützlich ist” (Link)

“Schweizer Lebenslüge ‘Zauberformel’-Konkordanz” (Link)

“Neutralitätsinitiative – wäre die Reduitstrategie wieder möglich?” (Link)

“Zum Scheitern einer Sicherheitspolitik, deren erste Priorität Nichtkrieg war” (Link)

“Gute Gerichtsberichterstattung – Gegengift gegen Populismus” (Link)

“Schutz des deutschen Bundesverfassungsgerichts vor politischer Einflussnahme?” (Link)

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Ulrich Gut

Ulrich Gut (1952), Dr. iur., wohnt in Küsnacht ZH. Der ehemalige Chefredaktor und Kommunikationsberater kommentiert auf Online Plattformen politische und gesellschaftliche Entwicklungen. Er präsidiert Unser Recht und ch-intercultur. 2009-2020 war er Zentralpräsident von Alzheimer Schweiz.

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