Richterinnen und Richter: Klärende Diskussion über ihre Aufgabe nötig

"Der Richter ist ein Landesverräter." Unter diesem Titel präsentiert SonntagsBlick das Resultat seiner Leserumfrage "Finden Sie das Urteil des Europäischen Gerichtshofs richtig?" 79 % antworteten nein. Und der Leser, der dem Schweizer Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Landesverrat vorwarf, wurde mit dem Titel gewürdigt.

Der Wille, vor Gerichten sein Recht zu suchen, ist so verbreitet wie die Bereitschaft, immer mehr Verhalten rechtlich zu regeln, oft auch unter Strafe zu stellen – also neue Aufgaben für die Gerichte einzuführen. Das Verständnis für die «Dritte Gewalt», die Justiz, die Aufgaben der Richterinnen und Richter hält aber offenbar nicht damit Schritt. Viele erwarten von ihnen nicht eine unabhängige Rechtsanwendung, sondern Anwaltschaft für den eigenen Rechtsstandpunkt.

Staaten haben gemeinsame Gerichte geschaffen. Die Mitglieder des Europarats, zu denen auch die Schweiz gehört, setzten den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ein. Er urteilt über Klagen, die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) sei verletzt worden. Die Schweiz stellt, wie jedes Mitgliedsland, ein Mitglied dieses Gerichts. Die Richterin oder der Richter eines Landes, gegen das eine Klage zu beurteilen ist, nimmt regelmässig an deren Beurteilung teil. Dies ist aber nur haltbar, wenn die Richterinnen und Richter auch gegenüber dem Rechtsstandpunkt ihres Herkunftslandes unabhängig urteilen. Sie dürfen sich nicht als dessen Anwälte verhalten. Jeder eingeklagte Staat ist selbstverständlich durch einen Anwalt vertreten, aber darf nicht der Richter sein, den er stellt.

Der Schweizer Richter im Prozess über die Klage der Klima-Seniorinnen verhielt sich als Richter. Man mag Urteilsschelte üben gegenüber dem EGMR und somit auch gegenüber dem Schweizer Richter, aber von Landesverrat kann keine Rede sein. Der Richter durfte seine Amtspflicht nicht verraten.

Nun wird versucht, diejenigen, die das Klima-Urteil ablehnen, für die Kündigung der EMRK und den Austritt aus dem Europarat zu mobilisieren. Am 28. November dieses Jahres ist es 50 Jahre her, dass die EMRK in der Schweiz in Kraft trat. Dies wird Gelegenheit sein, in Politik und Öffentlichkeit ein Gesamtbild ihrer Wirkung und ihres Nutzens für die Schweiz und für ein rechtsstaatliches, demokratisches Europa zur Diskussion zu stellen.

Mehr dazu

«Unser Recht»: «Schutz der Gesundheit ist Voraussetzung für ein Privatleben. Erläuterungen zum Urteil des EGMR über die Klage der Klimaseniorinnen» (Link)

«Nur die EMRK schützt in der Schweiz vor menschenrechtswidrigen Gesetzen» (Link)

 

Vielen Dank fürs Lesen.

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