Neutralitätsinitiative – wäre die Reduitstrategie wieder möglich?

Die Neutralitätsinitiative will der Schweiz verbieten, militärischen Widerstand mit Unterstützung aus dem Ausland, insbesondere der NATO, vorzubereiten und Gegenleistungen zu erbringen. Dies legt nahe, dass sich Bundesrat und General wieder für eine Réduitstrategie - den Rückzug des Gros der Armee in den Alpenraum - entscheiden müssten, wenn ein Angriff droht. Auch die Voraussetzungen für eine militärische Verteidigung des Alpenraums haben sich aber seit dem Zweiten Weltkrieg verändert.

Die Frage stellt sich bei Absatz 2 des Initiativtexts:

«Die Schweiz tritt keinem Militär- oder Verteidigungsbündnis bei. Vorbehalten ist eine Zusammenarbeit mit solchen Bündnissen für den Fall eines direkten militärischen Angriffs auf die Schweiz oder für den Fall von Handlungen zur Vorbereitung eines solchen Angriffs.» (Link zum Initiativtext.)

Das Initiativkomitee erweckt mit dem zweiten Satz den Anschein, erkannt zu haben, dass die militärische Verteidigung eines Kleinstaats ab Landesgrenze gegen die Armee einer Grossmacht unmöglich ist. Die Schweiz dürfte aber die militärische Zusammenarbeit erst im «Fall von Handlungen zur Vorbereitung eines solchen Angriffs» vorbereiten. Das Initiativkomitee wird sich darüber aussprechen müssen, wann es  solche Handlungen für gegeben sieht. Militärische Einsätze mit Partnern müssen schon in Friedenszeiten technisch – Kompatibilität der Waffen-, Aufklärungs-, Übermittlungs-, Führungssysteme – vorbereitet, eingespielt und geübt werden, auf in- und ausländischen Waffenplätzen. Wir werden sehen, ob das Initiativkomitee dies bestreiten wird.

Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs planten die schweizerische und die französische Armee eine gemeinsame Abwehr eines allfälligen Angriffs von Wehrmacht und SS auf die Schweizer Grenze. Das Interesse Frankreichs lag darin, zu verhindern, dass die Deutschen durch die Schweiz vorrücken würden, um französische Stellungen zu umgehen. Hitler und seine Militärführer entschieden sich stattdessen für einen Angriff im Norden, unter Verletzung der Neutralität und Integrität Hollands, Belgiens und Luxemburgs.

Nach der Kapitulation Frankreichs war für Bundesrat und General klar, dass nur noch der Alpenraum verteidigt werden konnte. Sie zogen das Gros der Truppen ins Reduit zurück (mehr dazu unten, Auszüge aus Rudolf Jaun: «Geschichte der Schweizer Armee. Vom 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart.» Zürich 2019).

Mag sein, dass das Initiativkomitee dafür eintritt, dass sich die Schweiz erneut eine Reduitstrategie vorbehalten muss für den Fall, dass eine Verteidigung mit Nato-Unterstützung ab Landesgrenze nicht möglich ist, weil der Neutralitätsartikel verbot, sie vorzubereiten. Somit ist abzuklären, wie sich die Voraussetzungen für einen erfolgreichen Abwehrkampf im Réduit seit den Vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelt haben. Klar ist, dass ein Angriff auf die Schweiz durch Aufklärung und Waffenwirkung (einschliesslich Cyber-Attacken) auf grosse Distanzen eingeleitet würde und, wenn die NATO dagegen nichts unternähme, die schweizerischen Truppen, ihre Stellungen und Basen beim Eintreffen feindlicher Truppen an der Landesgrenze schon stark geschwächt wären. Der Ukraine-Krieg führt dies anschaulich vor Augen. Aber wie wirken sich dieselben modernen Mittel aus, wenn sie gegen das Réduit eingesetzt werden? Wenn sich der Angreifer in den tiefgelegenen Landesteile zwischen Bodensee und Genfersee eingerichtet hat – und die Zivilbevölkerung drangsaliert?

Bereits 1940 war die Reduitstrategie keine Wunschstrategie, sondern eine Strategie faute de mieux, mit schweren Problemen nicht nur für die Armee, sondern auch die die Zivilbevölkerung. Diese würden sich wohl auch im 21. Jahrhundert stellen, und neue, durch die technologische Entwicklung hervorgerufene träten dazu.

Auszug aus Rudolf Jaun: «Geschichte der Schweizer Armee. Vom 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart.» Zürich 2019:

«Die zentrale Aussage Guisans (am Rütli-Rapport vom 25. Juli 1940) war: Ich will auch in verzweifelte Lage kämpfen, Erfolg im schwierigen Kampf suchen, notfalls aus der Niederlage den Anspruch auf das Existenzrecht der Schweiz wieder begründen. (…) Guisan musste angesichts des eingeleiteten Rückzugs in die Zentralraumstellung (…) die Zweifler auf das neue Dispositiv einschwören:

‹Le dispositiv de l’Armée a dû être modifié. … J’ai en conséquence ramené le gros de l’Armée dans un réduit national autour du Gotthard pour défendre les passages des Alpes et y remplir notre mission historique, coûte que coûte.›

In diesem Zentralraum sollte der Hauptkampf geführt werden unter optimaler Ausnützung des Geländes, der Hindernisse, Hinterhalte und Deckungen. ‹Voilà ce que notre peuple doit comprendre, ce qui fera hésiter notre adversaire éventuel. Car il sait bien que si nous étions attaqué nous détruirions nos tunnels le Gotthard et le Simplon, et pour longtemps. Et ce Gotthard, ils en ont besoin!›

Das war die grosse strategische Botschaft an die Kommandanten: die Alpen-Transversalen als strategisches Pfand in der Hand behalten. Dieses Pfand konnte offengehalten, geschlossen, verteidigt, aber auch vernichtet werden. Das gab Handlungsoptionen und Bargaining-Power.

Für Guisan galt: un chef, une mission, des moyens. Er wusste, dass es mit den moyens nicht weit her war. Deshalb verpflichtete er die Kommandanten dazu, die Truppe auf den Wert des Geländes und auf das soldatische Selbstvertrauen einzuschwören: (…)» S, 228 f.

Die Konzentration des Truppenpotenzials im Reduit zog eine Anzahl von Problemlagen nach sich, welche durch ‹flankierende Massnahmen› zu lösen oder zu mildern versucht werden mussten.

Neben dem Aufbau einer genügenden Versorgung war die Organisation der Remobilmachung der beurlaubten Truppen eins der am schwierigsten zu lösenden Probleme. Wo auch immer sich die wieder einrückenden Truppen besammelten, waren sie der Bedrohung durch allfällige überfallartige Aktionen eines angreifenden Gegners ausgesetzt. Deshalb wurden die Korpssammelplätze und Mobilmachungsplätze ins Reduit verlegt. (…)

Eine weitere Herausforderung der Aufstellung der Armee im Reduit bildete die Sicherstellung der Versorgung der Armee und der Zivilbevölkerung. (…)» S. 233

«Anfänglich meldeten die direkt unterstellten Korpskommandanten sowie Offiziere aller Gradstufen Zweifel am Rückzug der Armee in eine Zentralstellung an, aber auch in der Truppen und in der Bevölkerung machten sich kritische Stimmen bemerkbar.

Eine öffentliche Debatte liess die Zensur mit Bedacht nicht zu. Dem Oberbefehlshaber gelang es aber, den Glauben an die militärischen Widerstandsmöglichkeiten durch aktive Kommunikation fortwährend zu steigern. (…)» S. 235

Siehe auch Willi Gautschi: «General Henri Guisan. Die Schweizerische Armeeführung im Zweiten Weltkrieg.2 S. 294 ff.

Und sehr hörenswert das SRF-Tagesgespräch vom 10.4.24 mit dem Historiker André Holenstein (Link)

Vielen Dank fürs Lesen.

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