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PolitReflex Monatsbrief September 2024

EMRK, EGMR / Bilaterale: Streitschlichtung / Putins Drohungen / Landesverteidigung / Polarisierung / AfD / Feuilleton / Menschenrechte in China

Nationalrat und Ständerat haben die Motionen für die Kündigung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) überraschend klar verworfen. Aber der Ständerat überwies eine Motion von Ständerat Andrea Caroni (FDP-Liberale, AR), die den Bundesrat beauftragt, «zusammen mit den andern Vertragsstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) darauf hinzuwirken, dass sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) an seine Kernaufgabe erinnert. Namentlich soll der EGMR keine ideelle Verbandsbeschwerde zulassen (vgl. Art. 34 EMRK) und nicht mittels ausufernder Auslegung der Grundrechte den legitimen Ermessensspielraum der Staaten einschränken (vgl. Präambel bzw. 15. Protokoll). Im Vordergrund als Massnahme steht die Aushandlung eines entsprechend verbindlichen (17.) Protokolls zur EMRK.» Auch der Bundesrat hatte die Überweisung dieser Motion empfohlen.

Mit ins Bild gehört aber auch die Zustimmung des Nationalrats mit 105 zu 74 Stimmen zu einer Motion der SVP-Fraktion: *Kein Familiennachzug für vorläufig Aufgenommene.» Der Bundesrat hatte die Ablehnung empfohlen. Die Umsetzung dieser Forderung wäre wohl unvereinbar mit dem Recht auf Familienleben, das Artikel 8 der EMRK garantiert. Die Überweisung dieser Motion lässt auf eine Bereitschaft schliessen, die EMRK zwar nicht kündigen zu wollen, aber durch Grundsatzentscheid dauerhaft zu missachten. Ein solcher Beschluss stünde im Widerspruch zu Art, 46 Abs. 1 der EMRK: «Die Hohen Vertragsparteien verpflichten sich, in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen.» Der Ständerat setzte seinen Entscheid aus und überwies diese Motion und weitere migrationsrechtliche Vorstösse zur Prüfung an eine seiner Kommissionen.

Die Gefahr eines Bruchs der Schweiz mit dem europäischen Menschenrechtsschutz ist nur vorläufig gebannt. Sie würde wohl wieder aufflackern, wenn das Ministerkomitee des Europarates, das nach Art. 46 Abs. 2 EMRK den Vollzug der Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte überwacht, die Erklärung des Bundesrates zurückweisen würde, die Schweiz habe inzwischen die Anforderungen, die der EGMR im Urteil über die Klage der KlimaSeniorinnen stellte, erfüllt. Vor allem für diesen Fall ist es gut, dass der Bundesrat parallel dazu im Sinne der Motion Caroni tätig ist. Wenn dann die Kündigungsforderung wieder kommt, kann ihr entgegengehalten werden, die angestrebte Reform sei besser. Es ist durchaus möglich, dass der Bundesrat mit seinem Einsatz für ein Zusatzprotokoll Erfolg hat: Wenn auch andere Regierungen nicht damit einverstanden sind, dass der EGMR – gemäss seinem Verständnis dynamischer Rechtsprechung, richterlicher Rechtsfortbildung – eine so tiefgreifende Neuerung wie ein ideelles Verbandsbeschwerderecht selbst einführen will.

Vor allem durch die Entwicklung der Migrationspolitik und die Agitation rechtspopulistischer Parteien kamen die Menschenrechte, EMRK und Genfer Flüchtlingskonvention in vielen Ländern unter Druck. Die Gerichte können einen Niedergang ihrer Geltung wohl bremsen, aber wenn die Politik nicht gewillt, nicht fähig ist, einen Kerngehalt der Menschenrechtsgeltung und der Menschlichkeit zu verteidigen, werden die Gerichte auf die Dauer nicht die Kraft dazu haben. Dann droht der Justiz, selbst ins politische Schussfeld zu geraten.

Die beiden hier beigefügten Artikel (Link 1, Link 2) betreffend die Auseinandersetzung über EMRK und EGMR wurden kurz vor den EMRK-Sondersessionen von Nationalrat und Ständerat veröffentlicht, enthalten aber Feststellungen und Überlegungen, die aktuell bleiben.

Weitere Themen:

  • Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU, insbesondere über ein Streitschlichtungsverfahren: Wäre das vorgesehene Schiedsgericht nützlich oder, wie die Gegnerschaft des Verhandlungsmandats behauptet, ein «Feigenblatt»? (Link 3)
  • Kriegsgefahr in Europa: Putins Drohungen. (Link 4)
  • Muss die Schweiz die Verteidigung ihrer Landesgrenzen mit der Nato vorbereiten? Wenn dem Kleinstaat ein Angriff einer Grossmacht droht: Was General Guisan wusste und entschied (Link 5), und warum französische, russische und österreichische Armeen in der Schweiz Krieg führten (Link 6).
  • Wenn Gegensätze zwischen Regierungsparteien zu gross werden. Beispiele: die «Ampel» in Deutschland (Link 7), die «Zauberformel» in der Schweiz (Link 8).
  • Die Wahlerfolge der AfD in drei ostdeutschen Bundesländern und die Haltung, die die NZZ dazu einnimmt. (Link 8, Link 9, Link 10, Link 11)
  • Wie die Krise von Kulturjournalismus und Kulturkritik vertieft wird. (Link 12)
  • Der Mann, den die Zürcher SVP zu Christoph Blochers Nachfolger als Hauptredner an ihrer Albisgüetli-Tagung erhob, hält China für den «Weltmeister der Menschenrechte». (Link 13)
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Ulrich Gut

Ulrich Gut (1952), Dr. iur., wohnt in Küsnacht ZH. Der ehemalige Chefredaktor und Kommunikationsberater kommentiert auf Online Plattformen politische und gesellschaftliche Entwicklungen. Er präsidiert Unser Recht und ch-intercultur. 2009-2020 war er Zentralpräsident von Alzheimer Schweiz.

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