Weitere Radikalisierung der SVP – die «Zauberformel» macht sie möglich

Die Regierung der Schweiz wird nach einem System zusammengesetzt, das seit seiner Schaffung als "Zauberformel" und "Konkordanz" beschönigt wird. Es sollte dazu beitragen, dass die Schweiz trotz direkter Demokratie regierungsfähig ist. Aber wie der erneute Radikalisierungs-Schub der SVP zeigt, bewirkt es das Gegenteil.

Die Nein-Parole der SVP zum Stromgesetz ihres Bundesrates Albert Rösti ist systemkonform. Die «Zauberformel» sieht vor, dass die Bundesratsparteien zugleich Oppositionsparteien sind. Alle Parteien nutzen und geniessen diese Freiheit – so sehr, dass sie wohl auch die weitere Radikalisierung der SVP hinnehmen werden, ohne in Erwägung zu ziehen, dass sie die Wahl in den  Bundesrat künftig von einer Bereitschaft zur gemeinsamen Vertretung eines minimalen Regierungsprogramms abhängig machen könnten. Auch wenn es kein Koalitionssystem mit detaillierter Vereinbarung zu sein müsste (siehe hierzu «Politologe Adrian Vatter schlägt Abschluss eines Konkordanzvertrags vor», Link). Im Fall der SVP kommt hinzu auch Angst davor, wie es sich auswirken würde, wenn die wählerstärkste Partei aus der Regierung ausscheiden müsste. Man wird ihr die beiden Bundesratsmandate selbst dann belassen, wenn ihre Oppositionspolitik nicht mehr zu unterscheiden ist vom Verhalten einer Oppositionspartei ohne Regierungsmandate.

Gleichzeitig mit dem Nein zum Stromgesetz wählten die SVP-Delegierten einen neuen Präsidenten, von dem eine weitere Radikalisierung zu erwarten ist, sowohl der Inhalte als auch der Kampfmethoden. «Dettling, Glücksfall» – unter diesem Titel überschlägt sich Markus Somm, seit Jahren ständiger Kolumnist der Blocherbewegung in der «SonntagsZeitung», in seiner Kolumne vom 25.3.24 (Link) vor Begeisterung:

«Was für die SVP etwa das Gleiche bedeutet, als hätten sich Ostern, Weihnachten und Albisgüetli an einem Tag ereignet, ist für die Schweiz ein Glücksfall. Dettling ist fähig, Dettling redet so, dass jedermann ihn versteht, Dettling kennt die DNA des Landes. Denn Dettling ist ein Bauer. Wer die Schweizer Geschichte mitbekommen hat, weiss, wie unendlich wichtig die Bauern waren, als es darum ging, die Eidgenossenschaft zu gründen, die faktisch älteste bestehende Republik in Europa (okay, abgesehen von San Marino).» Dann folgt eine hymnische Kurzfassung des SVP-Geschichtsbilds. Und weiter: «Dettling ist ein Bauer – und das bleibt relevant, auch wenn 1294 weit weg scheint, weil vielleicht nur die Bauern sich jenes Selbstvertrauen bewahrt haben, das es braucht, um sich auch im 21. Jahrhundert zu trauen, die Demokratie zu verteidigen, sei es gegen eine immer gefrässigere, aufdringlichere Bürokratie in Bern, sei es gegen die Anmassungen der modernen Imperien, ob OECD, UNO oder natürlich EU, die allesamt die Demokratie in der Schweiz auszuhebeln drohen. (…) Inzwischen sind alle drei bürgerlichen Parteipräsidenten Katholiken, zwei von ihnen – Dettling und Gerhard Pfister (Mitte) – stammen gar aus ehemaligen Sonderbundskantonen (Schwyz und Zug), während Thierry Burkart (FDP) einen Bürgerort im Freiamt aufweist, einer schwarzkatholischen, immer rebellischen Gegend im Aargau, die sich 1847 wohl noch so gerne dem Sonderbund angeschlossen hätte. Ist es nicht ironisch? Bald werden wir erleben, wie es sehr auf diese drei Parteichefs ankommt, die alle drei bekannte Euroskeptiker sind, wenn es darum geht, die Schweiz gegen die gefährlichen Avancen einer immer imperialer auftretenden EU in Schutz zu nehmen, Stichwort Rahmenverträge. Ausgerechnet drei Katholiken und Sonderbündlern kommt die historische Aufgabe zu, den liberalen, so erfolgreichen Bundesstaat vor dessen Selbstverstümmelung zu bewahren.»

Dieser Radikalisierungsschub der SVP findet in einem Moment statt, da die Schweiz vor der Entscheidung steht, ob sie auf den vertraglich gesicherten guten Zugang zu den Märkten und Kooperationen in Europa verzichten will. Dieser Entscheid soll also, hoffen Leute wie Somm, unter Führung «der Bauern» fallen, insbesondere des Bauern Marcel Dettling. Es ist unsicher, ob Bundesrat und Parlament es diesmal wagen werden, das Verhandlungsergebnis zur Volksabstimmung zu bringen. Aber bis dahin können sich auch Bäuerinnen und Bauern, wie auch Gewerbe und Lohnabhängige, über den Zusammenhang ihrer wirtschaftlichen und sozialen Lage mit der Entwicklung der exportierenden Wirtschaft Gedanken machen: Ein Rückgang der Marktanteile in Europa vermindert die Nachfrage der Exportwirtschaft bei der Binnenwirtschaft. Er vermindert auch die Steuererträge, die nicht nur für die Renten und die Nachrüstung der Armee, sondern unter Anderem auch für die Landwirtschaftssubventionen gebraucht werden.

Erinnern wir daran, dass Marcel Dettling als Wahlkampfleiter der SVP 2023 behauptete, nur Arbeit in der Privatwirtschaft trage zur Wirtschaftsleistung bei – hierzu Gegenbeispiele im PolitReflex vom 2.7.23 (Link).

Und halten wir noch fest, dass bei Führungskräften der Jungen SVP die Hemmungen fallen, zwischen der Jungpartei und der rechtsextremen «Jungen Tat» Übereinstimmung festzustellen – wogegen immerhin selbst in den eigenen Reihen noch Widerspruch aufkommt. (Link zu NZZ-Bericht vom 22.3.24).

Siehe auch:

«Die SVP braucht die ‹Zauberformel›, um ihren Extremisten freien Lauf zu lassen» (Link).

«EU-Verhandlungen – Test für Kollegialprinzip und ‹Zauberformel›-Konkordanz» (Link)

«Bundesratswahl: Die Polparteien sind die Profiteure der ‹Zauberformel›-Konkordanz» (Link)

«‹Zauberformel› – die Realität entfernt sich immer stärker von der Idee» (Link)

«Braucht die Schweiz die ‹Zauberformel›, um regierbar zu bleiben?» (Link)

 

Vielen Dank fürs Lesen.

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