Braucht die Schweiz die «Zauberformel», um regierbar zu sein?

Keine Partei, die im Bundesrat vertreten ist, denkt ernsthaft daran, ihn zu verlassen, um nach einigen Jahren als reine Opposition gestärkt an die Macht zurückzukehren. Denn es trifft nicht zu, dass eine grosse Oppositionspartei dank den Instrumenten der direkten Demokratie übermächtig und blockadefähig würde.

Sogar nach der Nichtwiederwahl Christoph Blochers verfolgte die SVP nur das Ziel, möglichst rasch wieder ihre Zweiervertretung herzustellen. Machtausübung als reine Oppositionspartei war für sie keine Strategie, obwohl sie den Einsatz der direktdemokratischen Instrumente meisterhaft beherrscht und finanziell wie keine andere dafür ausgestattet ist.

Es gab einen Moment, als eine grosse Partei den Schritt aus der Regierung in die Opposition ernsthaft in Betracht zog: Die Sozialdemokratische Partei 1983 nach der Nichtwahl ihrer Bundesratskandidatin Lilian Uchtenhagen. Die Parteiführung schlug ihn vor, ein Sonderparteitag verhinderte ihn. (Link)

Interessant ist, dass auch Parteien, die eine Vertretung im Bundesrat erst anstreben, das Prinzip der sachpolitisch unverbindlichen Regierungsbeteiligung nicht in Frage stellen. Mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit würden auch Grüne und Grünliberale durchaus zusammen mit der SVP im Bundesrat Einsitz nehmen.

Weshalb wohl ist das so?

Die Parteien misstrauen zurecht der Erwartung, sie könnten in der Opposition dank Initiative und Referendum zur Gegenregierung oder jedenfalls zur unüberwindlichen Blockademacht werden. Eine Initiative wirkt, wenn überhaupt, erst nach Jahren. Und selbst wenn eine Oppositionspartei organisatorisch und finanziell zur Auslösung einer Sturzflut von Referenden fähig wäre, könnte sie nicht damit rechnen, dass die Stimmberechtigten dies durch wiederholte Ablehnung wichtiger Vorlagen von Regierung und Parlamentsmehrheit honorieren würden. Ein Bundesrat, der nach den Parlamentswahlen neu durch Parteien gebildet würde, die zwar eine kleinere parlamentarische Mehrheit hätten als der heutige, aber dafür einige verpflichtende Regierungsziele, könnte mit stärkerer Motivation und Unterstützung seiner Basis in Abstimmungen rechnen. Die Opposition hätte den Reflex «schlechte Wahlverlierer» zu gewärtigen, wenn sie Referenden ergreifen würde, die offensichtlich auf Lähmung der Regierung und der Parlamentsmehrheit abzielten.

Dazu kommt, dass die Bundesratsbeteiligung Möglichkeiten schafft, Parteifreundinnen und -freunde an wichtigen Verwaltungsstellen zu platzieren.

Die grössten Nutzniesser des Prinzips, dass die Vertretung im Bundesrat parteipolitisch unverbindlich ist, sind aber die extremen Flügel der Bundesratsparteien und die Interessengruppen, die den Bundesratsparteien nahe stehen. Weder die Parteileitungen noch die Bundesrätinnen und Bundesräte können zur Mässigung mahnen, mit dem Argument, die Partei müsse regierungs- und mehrheitsfähig bleiben – weil sie es eben wirklich nicht muss.

Wie festgestellt, besteht die Schweizer Regierungsformel aus zwei Teilen:

  • Prinzip der sachpolitischen Unverbindlichkeit der Regierungsbeteiligung.
  • «Zauberformel»: Anspruch der drei wählerstärksten Parteien auf zwei Bundesratssitze, der viertstärksten auf einen.

Für die Wahlen 2023 stellt bisher keine Partei das Prinzip der Unverbindlichkeit in Frage – zu sehr ist jede daran interessiert, zugleich die Vorzüge der Regierungsbeteiligung und die Freiheit zur Opposition zu geniessen.

Hingegen ist die «Zauberformel» nicht mehr garantiert. Solange es möglich ist, im Parlament eine Mehrheit gegen eine grüne oder grünliberale Vertretung im Bundesrat zu bilden, wird man wahrscheinlich davon Gebrauch machen, auch wenn eine dieser Parteien nach Wählerstärke auf Platz 4 landen würde.

 

 

 

 

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