EU-Verhandlungen – Test für Kollegialprinzip und «Zauberformel»-Konkordanz

"Cassis muss gestoppt werden", lässt SonntagsBlick auf seiner Frontseite SVP-Chef Chiesa ins Land rufen. Und der Chefredaktor der SonntagsZeitung schreibt: "So, wie es jetzt aussieht, ist das Scheitern bei einer Volksabstimmung gewiss. Man kann sich nur wundern, warum sich Cassis dies antut. Rätselhaft ist auch, dass der Bundesrat grünes Licht gegeben hat zu so einem solchen Himmelfahrtskommando."

Man könnte meinen, der Bundesrat habe über das Verhandlungsmandat eine Minderheit entscheiden lassen: Cassis, Amherd und vielleicht Keller-Sutter (vielleicht auch nicht). Wenn doch alle mitgestimmt haben, dann haben die beiden SVP-Bundesräte wohl abgelehnt – obwohl das Nein des Wirtschafts-, Bildungs- und Forschungsministers eher noch weniger selbstverständlich ist als das Nein des Energieministers. Eines der beiden SP-Mitglieder der Regierung mag auch noch nein gestimmt haben. Das gäbe 4 zu 3.

Wir dürfen es nicht erfahren. Vielleicht sickert es doch durch, wie so Vieles aus unserer «Konkordanz»-Regierung des «Alle gegen Alle».

Klar ist, dass die wichtigsten Bundesratsbeschlüsse durch das Kollegium verantwortet werden. Dass sie also jedes Mitglied des Bundesrates mitverantwortet, und sie mitzuvertreten hat. Bei weniger bedeutenden Vorlagen mag man sich vorstellen, dass das Gremium das Mitglied, von dem der Antrag kommt, gewähren lässt – in der Erwartung von Gegenseitigkeit. Man kann und soll sich ja nicht mit Allem gleich intensiv befassen, sondern Prioritäten setzen.

Aber das Mandat für Verhandlungen mit der Europäischen Union hat erste Priorität. Jedes Mitglied des Bundesrates weiss, dass dies auch für seine Partei gilt, und für die Verbände, Gewerkschaften und NGO’s, die ihr nahestehen. Klar ist, dass der federführende Bundesrat eine erhöhte Verantwortung für die Qualität des Antrags trägt. Aber die massive Ablehnung, die jetzt von der SVP und den Gewerkschaften kommt, fordert den Bundesrat als Kollegium heraus. Dasselbe gilt für die Bereitschaft von Spitzenkräften der FDP und der Mittepartei, die Verhandlungen und deren Ergebnis in Frage zu stellen.

Wenn die Vertreterinnen und Vertreter dieser Parteien im Bundesrat dies nicht vorhersahen, und wenn sie sich nicht – oder erfolglos – bemühten, darauf Einfluss zu nehmen, zeigt dies, dass die Vertretung einer Partei im Bundesrat ihre Bedeutung verloren hat: Die «Einbindung», die man der «Zauberformel»-Konkordanz nachgerühmt hat, kann man vergessen.

Der momentane Eindruck, dass man die Verhandlungen gar nicht erst beginnen müsste, weil sie sowieso zum Scheitern verurteilt seien, kann aber täuschen. Die laute, kompromisslose Ablehnung wird Gegenkräfte mobilisieren, und die Bevölkerungsgruppen, für welche der ungehinderte Zugang zu europäischen Märkten und Kooperationen wichtig ist, haben Zeit, hierfür Verständnis zu schaffen. Und auch die Mitglieder des Bundesrates können versuchen, wiederherzustellen, was heute gescheitert scheint: Kollegialprinzip und Konkordanz.

Mehr dazu:

«Gegnerschaft neuer Verträge mit der EU im vorgezogenen Siegestaumel» (Link)

 

 

Vielen Dank fürs Lesen.

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