Kennzeichnend für das schweizerische Regierungssystem ist, dass für die Parteien ihre Zugehörigkeit zum Bundesrat sachpolitisch unverbindlich ist. Eine Bundesratspartei kann gegen den Bundesrat und gegen die Mehrheit der Bundesversammlung Referenden ergreifen und ihrer Politik mit Volksinitiativen entgegentreten. Diese Freiheit führt aber in innere Abhängigkeit der Parteileitung von Kräften, die sie vor sich hertreiben: Sie können ihren radikalen Flügeln und den Interessengruppen, die ihnen nahe stehen – hier den Jusos, dort Leuten wie Roger Köppel und Andreas Glarner – nicht entgegenhalten, die Partei müsse regierungs- und koalitionsfähig sein.
Die Freiheit, zu opponieren und trotzdem die Regierungsämter zu behalten, hat dazu geführt, dass heute die SVP im Wettbewerb mit der deutschen AfD um den Titel der extremsten Rechtspartei Europas steht. Und bereits Peter Bodenmann hatte als Präsident der SPS, der er 1990-1997 war, stolz erklärt, dank der „Zauberformel“ stehe er der linksten SP Europas vor.
Der arithmetisch begründete und deshalb sachpolitisch unverbindliche Anspruch auf Bundesratssitze war einst dazu bestimmt, „Konkordanz“ herzustellen: Die Regierungspolitik möglichst referendumsfest zu machen. Inzwischen bewirkt er das Gegenteil: Er wurde von der „Zauber“- zur „Fluchformel“: Sie erzeugt und steigert „Diskordanz“ – mit der Folge von Blockaden, zum Beispiel der Europapolitik und der Reform der Sozialversicherungen.
Die Polarisierung wirkt sich auch auf die Beziehungen zwischen den Parteien aus. Eine Koalition mit Verpflichtung auf ein Mindestmass an gemeinsamen Regierungszielen wäre zwischen FDP und SP, vielleicht auch zwischen Mittepartei und SP, unmöglich. Grosse Profiteurin davon ist die SVP: Sie kann tun und lassen, was sie will – die FDP wird mit ihr weiterregieren, und wahrscheinlich auch die Mittepartei. Auch die deutsche FDP hat ihre Probleme. Aktuell ist sie in einer Koalition, deren Politik ihr Ansehen bei ihrer Basis beschädigt. Aber sie war immer frei, zu entscheiden, ob sie mit der Union oder der SPD (und nun mit den Grünen) koalieren wolle, je nachdem, mit welcher Kraft sich das aus liberaler Sicht bessere Regierungsprogramm aushandeln liess.
Lange meinte man, die Schweiz sei auf dieses System der Unverbindlichkeit angewiesen, um regierungsfähig zu bleiben. Nun wissen wir, dass es die Regierungsfähigkeit nicht stärkt, sondern immer mehr schwächt. Aber die Parteien schätzen die arithmetischen Ansprüche und die Unverbindlichkeit der Regierungsbeteiligung zu sehr, als dass sie etwas daran ändern würden.
Dies verheisst vor allem für die Europapolitik nichts Gutes. Man kann den rechten und linken Blockadekräfte, wenn überhaupt, wohl nur mit einer ihrer vermeintlich eigenen Waffen wirksam entgegentreten: Der Volksinitiative. Einer Europa-Initiative.
*
Noch zum erwarteten Zugewinn der SVP: Sie bewegt sich weiterhin im Rahmen der etwa 30 %, auf die rechtspopulistische Parteien in vielen Ländern mindestens rechnen können. Auch Deutschland dürfte die AfD in dieser Grenze halten.
* Link zum Bericht des Tages-Anzeigers über das SRG-Wahlbarometer vom Juni 2013.
Mehr dazu:
„Braucht die Schweiz die ‚Zauberformel‘, um regierbar zu sein?“ (Link)
„Politologe Adrian Vatter schlägt Abschluss eines ‚Konkordanzvertrags‘ vor“ (Link)
„Die SVP braucht die ‚Zauberformel‘, um ihre Extremisten freien Lauf lassen zu können“ (Link)
„Von der Zauber- zur Fluchformel“ (Link)