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Die Schweiz muss sich mit der Nato auf den Verteidigungsfall vorbereiten

Neutralitätshistoriker Marco Jorio: "Man muss ja nicht so weit gehen wie General Guisan während des Zweiten Weltkriegs. Er liess die Franzosen auf dem Gempen-Plateau bei Basel Stellungen abstecken."

Jorio hat das kürzlich vorgestellte Manifest “Eine Neutralität für das 21. Jahrhundert” unterzeichnet. In einem Interview im SonntagsBlick (9.6.24) befasst er sich damit, dass die Schweiz als Kleinstaat auf ausländische Unterstützung angewiesen ist, wenn sie militärisch angegriffen wird. Sie müsse sich mit den in Frage kommenden ausländischen Partnern vorbereiten.

Auszug aus dem Interview:

“Es geht nicht um den Nato-Beitritt. Das wollen wir gerade nicht. Wir wollen, dass die Schweiz nicht überrumpelt wird, sollten künftig fremde Kampfjets über der Schweiz auftauchen. Planen kann man alles. Ich meine sogar: Wir müssen das tun!”

Erstaunlich ist, dass Schweizer und Schweizerinnen, die stolz auf das Verhalten der Schweiz im Zweiten Weltkrieg und auf General Henri Guisan sind, aber heute ein unzeitgemässes Neutralitätsverständnis vertreten, die Verteidigungsvorbereitungen mit Frankreich ausblenden, die die Schweiz und ihr General trafen. Marco Jorio gibt ein Beispiel, das sogar über Planung hinausging: “Man muss ja nicht so weit gehen wie General Guisan während des Zweiten Weltkriegs. Er liess die Franzosen auf dem Gempen-Plateau bei Basel Stellungen abstecken. Man kann sich absprechen: Wie arbeiten wir zusammen, wenn die Schweizer Lufthoheit verletzt wird? Wie können wir unsere Waffen- und Kommunikationssysteme aufeinander abstimmen?”

Dem Beispiel Guisan, Gempen-Plateau, folgt eine weitere Erfahrung: Als Frankreich kapitulierte, zogen Bundesrat und General das Gros der Armee ins Alpen-Reduit zurück, weil eine erfolgreiche Abwehr eines Angriffs von Wehrmacht und Waffen-SS ab Landesgrenze nicht mehr vorstellbar war.

Marco Jorio geht auch auf die Frage ein, weshalb denn Hitler die Schweiz nicht habe besetzen lassen: “Es gibt mehrere geostrategische Gründe, die von den jeweiligen Kriegsphasen abhingen. Der wichtigste war Italien. Die Italiener wollten die Deutschen unter keinen Umständen auf dem Gotthard und schon gar nicht in Chiasso vor den Toren Mailands haben.”

*

Das Neutralitätskonzept muss aufgrund der heutigen Realitäten bezüglich Waffen- und Kommunikationssysteme auf den Verteidigungsfall ausgerichtet werden. Es mag Eindruck machen, wenn schweizerische Kampfjets auf einer Autobahn landen und von ihr aus wieder starten können, aber das geht davon aus, dass die Schweiz verhindern konnte, dass der Angreifer diese Autobahn bereits von Raketenbasen ausserhalb der Landesgrenzen und/oder aus der Luft zerstört hätte.

Wenn die Initianten der Neutralitätsinitiative um Christoph Blocher ein Reduit-Konzept haben, sollten sie es bald einmal vorstellen. Die Reduit-Strategie war nach Frankreichs Kapitulation notwendig und jedenfalls politisch sinnvoll als Willensbekundung, wenigstens einen Teil des Staatsgebiets zu behaupten. Es war aber damals schon höchst bedenklich, einen grossen Teil der Bevölkerung einem Besetzer zu überlassen, der seine Brutalität dann im Umgang mit der Zivilbevölkerung im besetzten Frankreich und in anderen besetzten Staaten zeigte. Seither haben sich auch die militärischen Voraussetzungen einer Reduit-Strategie geändert – und wohl verschlechtert.

Deshalb hat auch der Verfasser des “PolitReflex” das Neutralitätsmanifest unterzeichnet.

Mehr dazu:

Marco Jorio: “Die Schweiz und ihre Neutralität” (Link)

Georg Häsler in der NZZ zum Neutralitäts-Manifest (Link)

“Verteidigungsvorbereitung mit dem Ausland – von General Guisan bis heute” (Link)

“Neutralitätsinitiative – wäre die Reduitstategie wieder möglich?” (Link)

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Ulrich Gut

Ulrich Gut (1952), Dr. iur., wohnt in Küsnacht ZH. Der ehemalige Chefredaktor und Kommunikationsberater kommentiert auf Online Plattformen politische und gesellschaftliche Entwicklungen. Er präsidiert Unser Recht und ch-intercultur. 2009-2020 war er Zentralpräsident von Alzheimer Schweiz.

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