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Bundesratswahlen: Die SVP und die arithmetische Konkordanz.

Die SVP könnte den Grünliberalen zu einem bisherigen FDP-Sitz im Bundesrat verhelfen, zieht Parteipräsident Marco Chiesa in Betracht. In der gleichen Stellungnahme bekennt er sich zur arithmetischen Konkordanz, also zur Verteilung der Bundesratssitze nach Wählerstärke. Was aber, wenn nach den Wahlen 2023 die Grünen einen höheren Stimmenanteil haben als die Grünliberalen? Schon Chiesas Vorgänger Albert Rösti distanzierte sich von der reinen Arithmetik.

Chiesa würde auf die Grünen-Frage vielleicht antworten: Den Grünen verhelfen wir zu einem SP-Sitz und den Grünliberalen zu einem FDP-Sitz, dann stimmt die Arithmetik, und der Kurs des Bundesrates ändert trotzdem nicht wesentlich.

Es kann ja sein, dass die Grünen an der SP vorbeiziehen, wie es sich für die Bundestagswahl in Deutschland abzeichnet. Aber ganz sicher ist es nicht, dass die SP den Anspruch auf ihren zweiten Sitz im Bundesrat an eine andere Partei abtreten muss. Wenn nicht: Wem verhilft dann die SVP zum FDP-Sitz: den Grünen oder den Grünliberalen?

Die SVP hat ein gespaltenes Verhältnis zur arithmetischen Konkordanz – und wohl nicht einmal als einzige Partei. In eigener Sache hat sie natürlich immer den Anspruch erhoben, nach Wählerstärke vertreten zu sein. Aber nach den Wahlen 2019 nahm Chiesas Vorgänger Albert Rösti, um den Einzug der Grünen in den Bundesrat zu verhindern, gleich mit drei Argumenten von der Arithmetik Abstand (Link):

Erstens: Drei Viertel der Bürger hätten nichtgrün gewählt. Zweitens: Die Bürgerlichen stünden der SVP näher. Drittens: Die SVP habe mit den FDP-Bundesräten eine gute Zusammenarbeit. Tatsächlich blieben die Grünen dann aussen vor (Link).

Einschränkung der Arithmetik gab es schon immer: Ein neuer Anspruch wird nicht sofort eingelöst – schon gar nicht, wenn er zu einer Änderung des Regierungskurses führen könnte, den die Mehrheit des Bundesversammlung nicht will. Auch nimmt die Bundesversammlung ungern eine Abwahl vor, um Platz für eine Partei zu machen, die neu einen Sitzanspruch hätte.

Mit der Nichtwiederwahl Christoph Blochers 2007 setzte die Mehrheit der Bundesversammlung dem arithmetischen Anspruch eine grundsätzliche Grenze: Ein Vertreter einer Partei kann ihn verspielen. Eine Doppelrolle als Regierungsmitglied und Oppositionsführer – die von Blocher schon bei seiner Wahl 2003 erwartet werden musste – wird nicht grenzenlos toleriert.

Christina Neuhaus, Leiterin der NZZ-Inlandredaktion, stellte zutreffend fest: “Indem die SVP der FDP unsanft zu verstehen gibt, dass sie bei den nächsten Bundesratswahlen geradeso gut die Grünliberalen unterstützen könnte, nimmt sie die FDP in politische Geiselhaft: Stimmt mit uns, oder wir lassen euch fallen” (Link). Aber vor und nach den Wahlen 2023 müsste sich die SVP jedenfalls neu zu den Kriterien der Regierungszusammensetzung äussern: Reine Arithmetik oder politische Gemeinsamkeiten?

Noch ein Blick zu den Grünliberalen: In der Europa- und in der Klimapolitik und noch in anderen Bereichen stehen sie der FDP deutlich näher als der SVP. Die SVP kann in den beiden liberalen Parteien durchaus Gedanken nähren, Gespräche über die nächsten Bundesratswahlen zu führen.

Denn die rein arithmetische Konkordanz wird nicht konsequent praktiziert und hat wohl keine Zukunft.

Mehr dazu:

“Wer einen anderen Bundesrat will, muss eine Mehrheit bilden” (Link)

“Dem ‘Konkordanz’-System der unverbindlichen Regierungsbeteiligung droht das Ende” (Link)

“Konkordanzgipfel: Geht die Zeit der unverbindlichen Zugehörigkeit zum Bundesrat zu Ende?” (Link)

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Ulrich Gut

Ulrich Gut (1952), Dr. iur., wohnt in Küsnacht ZH. Der ehemalige Chefredaktor und Kommunikationsberater kommentiert auf Online Plattformen politische und gesellschaftliche Entwicklungen. Er präsidiert Unser Recht und ch-intercultur. 2009-2020 war er Zentralpräsident von Alzheimer Schweiz.

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