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Weshalb sich wieder mehr Menschen dem Nationalsozialismus zuwenden

FPÖ-Chef Norbert Kickl, der österreichischer Bundeskanzler werden könnte, findet es patriotisch, dass seine Parteijugend in einem Video den Wiener "Hitlerbalkon" zeigt. Maximilian Krah, Spitzenkandidat der AfD für die Europawahlen, appelliert an die Deutschen, stolz auf die Nazizeit zurückzublicken**. Die Diskussion, ob Hubert Aiwanger, stellvertretender Ministerpräsident Bayerns, in der Jugend antisemitisch und rechtsextrem gewesen sei, gibt seinen Freien Wählern vor den Wahlen Auftrieb.***

Hitler wurde militärisch, nicht politisch besiegt. Die Sowjetarmee stand in Berlin, als er sich im  Führerbunker das Leben nahm. Sicher befanden sich grosse Teile des deutschen und des österreichischen Volkes während der ganzen Zeit der Nazi-Diktatur in der inneren Emigration, standen den Nazis von ihrem Aufstieg an bis zum Sturz ihrer Schreckensherrschaft ablehnend gegenüber. Aber grosse andere Teile unterstützten ihn – über das Kriegsende hinaus -, und liessen sich auch nicht davon abbringen, wenn Städte, in denen sie lebten, in Schutt und Asche gebombt wurden. Die Exponenten des Widerstands, die mit dem Stauffenbergs Attentat auf Hitler in Verbindung gebracht wurden, erhielten nach dem Krieg nicht nur Anerkennung, sondern zum Teil auch Ablehnung, ja gar Verratsvorwürfe, und auch Rückkehrende aus der Emigration konnten auf Anfeindung stossen.

Es muss wohl – auch mit Blick auf Putin – als Erfahrung ernst genommen werden, dass ein kriegführender Diktator im Verlauf des Kriegs nicht an Unterstützung aus dem Volk einbüsst. Anderseits kann auch Putin nicht damit rechnen, den Widerstandswillen in der Ukraine niederbomben, niedermorden, niederfoltern zu können.

Umso mehr verdient Respekt, dass es Deutschland und Österreich nach dem Kriegsende gelang, stabile Demokratien und Rechtsstaaten aufzubauen. Dazu trug auch bei, dass die demokratischen Siegermächte klüger handelten als die Sieger des Ersten Weltkriegs: Sie förderten den Wiederaufbau Deutschlands und Österreichs. Deren neue, demokratische Führungskräfte blieben deshalb vor Anfechtungen verschont, wie sie zum Sturz der Weimarer Republik geführt hatten. Diese Politik der Westmächten war auch deshalb klug, weil Deutschland so zum Bündnispartner gegenüber der Sowjetunion wurde.

Aber der nationalsozialistische Ungeist, samt Antisemitismus, hat überwintert. Und wenn die demokratisch-institutionelle Politik derzeit auf wachsende Unzufriedenheit stösst – Unterbringung und Integration Eingewanderter, Kriminalität, Rezessions- und Verarmungsgefahr, Klimaschutzmassnahmen, Kriegsgefahr, “Wokeness”-Debatten, zerstrittene Regierungskoalition -, wird für wachsende Teile der Bürgerinnen und Bürger das ganz Andere, das tabuisiert Gewesene wieder vorstellbar oder gar wünschbar: Starke, harte, national-egoistische Führung. Rechtsextremismus eben.

Und damit erhält auch Geschichtsrevision Auftrieb – je mehr die Erinnerung, auch die durch Eltern, Grosseltern, Schulen, Universitäten, Medien vermittelte, an die Nazi-Verbrechen und die Leiden des deutschen und österreichischen Volkes verblasst, desto stärker. Die Ablehnung Hitlers und der Nazis, die während Generationen nahezu Konsens schien, wird mehr und mehr in Frage gestellt durch verletzten Stolz und erwachenden Widerstandswillen, und es kommt zu krassen Tabubrüchen.

Dem zu begegnen, erfordert vor allem Leistung der demokratischen Staatsführungen und Parteien: Überzeugenderes “Personal”, mehr und bessere Kompromisslösungen, auch besser und loyaler kommunizierte. Auch Bürgerinnen und Bürger einer Demokratie wollen überzeugend geführt werden, sind darauf angewiesen und sind sich dessen bewusst.

Sodann kann nicht genug Verstand und Arbeit in die Vermittlung von Geschichtswissen eingesetzt werden, in Schule, Studium, Medien, Parteienkommunikation, mit neuen, auch jugendgerechten Methoden. Der Erfolg ist nicht garantiert.

*        Ivo Mijnssen: “Wenn Österreichs Rechtsextreme von der Zukunft träumen, sehen sie den ‘Hitlerbalkon'”. NZZ 9.9.23, Link.

**      PolitReflex: “AfD-Spitzenkandidat stolz auf Nazi-Vergangenheit”. Link.

***    Frankfurter Allgemeine: “Antisemitisches Flugblatt. Freie Wähler legen in erster Umfrage nach Flugblattaffäre zu”. Link.

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Ulrich Gut

Ulrich Gut (1952), Dr. iur., wohnt in Küsnacht ZH. Der ehemalige Chefredaktor und Kommunikationsberater kommentiert auf Online Plattformen politische und gesellschaftliche Entwicklungen. Er präsidiert Unser Recht und ch-intercultur. 2009-2020 war er Zentralpräsident von Alzheimer Schweiz.

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