Vordergründig wirkt dieser Beschluss plausibel (Link zum Text der Verfassungsrevision; Link zu den Geschäftsunterlagen). Aber damit würde die gemäss Bundesverfassung geltende Gleichbehandlung von Gesetzen und Staatsverträgen aufgehoben: Das Parlament dürfte weiterhin Gesetze erlassen, die materiell die Verfassung ändern, aber trotzdem nur dem fakultativen Referendum unterstehen und, wenn dieses ergriffen wird, nur das Volksmehr brauchen. Diese Freiheit des Parlaments ergibt sich daraus, dass die Schweiz keine Verfassungsgerichtsbarkeit hat: „Bundesgesetze und Völkerrecht sind für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden massgebend“ (Art. 190 der Bundesverfassung).
Der Beitritt zu Organisationen für kollektive Sicherheit (Beispiel UNO) und zu supranationalen Gemeinschaften (Beispiel EU) unterstehen bereits dem obligatorischen Referendum und benötigen somit das Ständemehr (Art. 140 Abs. 1 lit. b BV). Damit ist auch klar, dass über eine allfällige Vorlage für einen Beitritt zur Europäischen Union, die Gegner des Institutionellen Rahmenabkommens als dessen Folge befürchten, durch Volks- und Ständemehr entschieden würde.
Es sei daran erinnert, dass 2012 eine Volksinitiative der AUNS unter dem Titel „Staatsverträge vors Volk!“ mit Dreiviertelsmehr des Volkes und allen Standesstimmen abgelehnt wurde (Link zum Initiativtext, Link zum Abstimmungsergebnis).
Die Vorlage zur Ausweitung des Staatsvertragsreferendums darf primär politisch diskutiert werden. Denn die Beschränkung des obligatorischen Staatsvertragsreferendums auf den Beitritt zu Organisationen für kollektive Sicherheit und zu supranationalen Gemeinschaften entspricht der bisherigen Gleichstellung von Gesetzen und Staatsverträgen in Art. 190 der BV. Und durch die klare Ablehnung der AUNS-Initiative wurde sie direktdemokratisch neu legitimiert.
Im „Schweizerischen Bundesstaatsrecht“ (Häfelin, Haller, Keller, Thurnheer, 10. Auflage) lesen wir zum Ständemehr: „Die Kantone sind an der Willensbildung des Bundes beteiligt. Als wichtigste Form steht ihnen die Beteiligung an der Verfassungsgebung des Bundes zu: Die Bundesverfassung kann nicht gegen den Willen der Mehrheit der Kantone abgeändert werden (Art. 140 Abs. 1 lit. a und Art. 195 BV). Jede Begründung von Bundeskompetenzen bedarf der Zustimmung der Mehrheit der Kantone. Die Kantone haben also ein Mitwirkungsrecht bei der Umschreibung der bundesstaatlichen Kompetenzenordnung. N. 939.“ – „Im Ergebnis hat das Ständemehr dabei vor allem die ländlich-konservativen Kantone der Inner- und Ostschweiz bevorzugt – auf Kosten bevölkerungsreicher Kantone mit grösseren städtischen Agglomerationen wie Bern, Genf, Waadt und Zürich“ (a.a.O, N. 1796).
Das Ständemehr war beim Erlass der ersten Bundesverfassung 1848 eines der politischen Instrumente, um die katholisch-konservativen Kantone nach ihrer Niederlage im Sonderbundskrieg mit dem neuen Bundesstaat auszusöhnen und sie in diesen zu integrieren. (Link zum Beitrag „Sonderbund“ des Historischen Lexikons der Schweiz.)
Der ursprüngliche Sinn des Ständemehrs besteht darin, die Kompetenzen der Kantone zu schützen und ihnen – unabhängig von ihrer Bevölkerungszahl – Mitbestimmung bei der Einführung oder Erweiterung von Bundeskompetenzen zu geben. Allerdings enthält die Bundesverfassung keine Einschränkung auf Verfassungsänderungen solchen Inhalts: Jede Verfassungsänderung untersteht dem Ständemehr. Folglich unterstünde auch jeder Staatsvertrag mit Verfassungsrang dem Ständemehr, unbesehen, ob und wie er die Kantone betrifft. Ständerat Andrea Caroni, auf dessen Motion die Revisionsvorlage zurückgeht, bemerkte hierzu, Staatsverträge aller Art könnten für die Kantone relevant sein, weil ihre Umsetzung oft Kostenfolge für sie habe.
Es ist durchaus möglich, dass bei der Anwendung eines solchermassen erweiterten Staatsvertragsreferendums kantonale Interessen diskutiert würden. Mindestens ebenso wahrscheinlich ist aber, dass rechts-, aussen- und allgemeinpolitische Grundsatzdebatten geführt würden und den Ausschlag für den Ausgang der Abstimmung gäben.
Und letztlich würde es für den Bundesrat schwieriger, internationale Vereinbarungen zu fördern, wenn er gewärtigen müsste, dass eine Mehrheit konservativer Kantone nach geführten Verhandlungen die Beteiligung der Schweiz am Vertragswerk verhindern würde.