Seit 75 Jahren gilt in Deutschland das Grundgesetz, seit 50 Jahren in der Schweiz die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Aber Jubiäumsstimmung kommt hier wie dort kaum auf.
Den 75. Jahrestag des Grundgesetzes nimmt PolitReflex zum Anlass, der Gesamtleistung Nachkriegs-Deutschlands in seinem Innern und nach aussen – für Europa – Respekt zu zollen (Link 1). Die Deutschen lassen es keineswegs an Selbstkritik und Selbstzweifeln fehlen. Zudem müssen sie sich mit populistischen Strömungen auseinandersetzen, die zum Teil klar rechtsextrem sind und für eine zumindest teilweise Rehabilitierung des Nationalsozialismus eintreten. Dies führte sogar dazu, dass sich der Front National eine Partnerschaft mit der AfD nicht mehr leisten kann und ihren Ausschluss aus einer Fraktion im EU-Parlament durchsetzte (Link 2). Bisher gelang es den Rechtsextremen nicht, sich hinter ein gemeinsames europapolitisches Programm zu stellen (Link 3, Link 4).
In der Schweiz rollte ins EMRK-Jubiläumsjahr eine Welle der Empörung über die Gutheissung der Klage des Vereins schweizerischer KlimaSeniorinnen durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg. Kaum jemand scheint sich die Mühe zu nehmen, sich mit der Begründung dieses Urteils zu befassen. Hierfür stünde eine Kurzanalyse zur Verfügung, verfasst von Bundesrichterin Dr. Julia Hänni für den Think-Tank „Unser Recht“.
Man wirft dem EGMR Missachtung der direkten Demokratie vor. Dabei hat er selbstverständlich keinen einzigen Volksentscheid aufgehoben und keine künftige Vorlage, keine künftige Volksinitiative, kein künftiges Referendum untersagt. Er hat festgestellt, dass insgesamt zu wenig vorgekehrt worden sei, um das Recht der Individuen auf Schutz vor hitzebedingten Gesundheitsschäden zu schützen. Wie dies zu ändern ist, muss der Gerichtshof der Schweiz überlassen, wie auch andern Konventionsstaaten.
Und nun schlägt die Kommission für Rechtsfragen des Ständerates also vor, die Schweiz solle beim Ministerkomitee des Europarates gegen dieses Urteil protestieren und ihm mitteilen, dass sie es ignoriere (Link zum Erklärungsantrag) (Link 5). Noch weiter wollen drei Nationalräte von Mitte, FDP und SVP gehen: Sie haben bereits in der Frühlingssession eine Motion zur Kündigung der EMRK eingereicht. Eine Motion desselben Inhalts will in der Sommersession auch die SVP-Fraktion einreichen (Link 6).
Die Kündigungsmotionen werden kaum mehrheitsfähig sein. Allzu klar, mit 66 % Volks-Nein und 100 % Stände-Nein, wurde 2018 eine SVP-Initiative abgelehnt, die die Rechtsprechung des EGMR für unbeachtlich erklärt hätte (Link). Diese Mehrheit war sich bewusst, wie wertvoll es auch für die Menschen in unserem Lande ist, dass sich die Mitgliedstaaten des Europarates darauf verständigt haben, gemeinsam die Menschenrechte zu schützen und hierfür einen gemeinsamen Gerichtshof einzusetzen: Gemeinsame, nicht „fremde“ Richterinnen und Richter! Allerdings würde die Schweiz durch den Anspruch, ein Konventionsstaat könne selbst entscheiden, welche Urteile er beachtet, und durch das Beispiel, das sie dadurch gäbe, dem Menschenrechtsraum Europa ebenso grossen Schaden zufügen wie durch eine Kündigung. Sollten sich die Räte tatsächlich zu einer Weigerungs- und Protesterklärung entschliessen, müsste auch der Bundesrat seine Haltung dazu bestimmen. Dabei müsste er sich der Tatsache bewusst sein, dass die Schweiz durch ihren Aussenminister im Ministerkomitee des Europarates vertreten ist, und durch einen Botschafter im Stellvertreterkomitee. Sie müssten im Ministerkomitee die Erklärung der Schweiz vertreten und an der Beratung mitwirken, wie sich dieses dazu verhalten solle.
Man muss sich bewusst sein, dass das Ministerkomitee über die Entwicklung der Rechtsprechung über Artikel 8 EMRK zu einem Schutzrecht längst auf dem Laufenden war und sie offenbar für vertretbar hielt. Andernfalls hätten die Staaten als Quasi-Verfassungsgeber der EMRK walten und Artikel 8 durch ein Zusatzprotokoll revidieren können.
Vereinbar mit den Pflichten eines EMRK-Staats ist deshalb nun der Vorschlag, sich darauf zu besinnen, dass die Mitgliedsstaaten der EMRK quasi deren Konstitutive sind und sie durch Zusatzprotokolle ändern können. Ein Vorschlag für ein Zusatzprotokoll zu Artikel 8 der EMRK, der auf die Klage der KlimaSeniorinnen angewandt wurde, ist angekündigt. Man ist gespannt auf den Inhalt dieses Revisionsvorschlags.
Angst vor Krieg ist verständlich. PolitReflex wies aber darauf hin, welch schwere Auswirkungen auch eine feindliche Besetzung eines Landes haben kann. Wehrwille setzt dieses Bewusstsein voraus (Link 7). Wehrwille muss aber ergänzt werden durch eine realistische Beurteilung, dass Kleinstaaten auf militärische Kooperation und Unterstützung angewiesen sind, und wie es um die Voraussetzungen hierfür steht. Hierzu der Artikel unter dem Titel „Trittbrettfahrer Schweiz“ (Link 8).
Und schliesslich: „Die Schweiz ist zu klein für die NZZ“ – ein früherer Verwaltungsratspräsident gibt Erklärungshilfe zu einer Deutschlandstrategie, in der Geschäftsmodell auf Politik trifft (Link 9).