Es geht nicht mehr nur darum, ob und wie lange sich die Schweiz den Wechsel vom vertraglich abgesicherten Zugang zu den Märkten und Kooperationen in Europa in den EU-Drittlands-Status leisten kann und will. Die Überprüfung der Grundhaltung muss von den Entwicklungsszenarien Europas und deren mutmasslichen Auswirkungen auf die Schweiz ausgehen.
Die Zukunft der Europäischen Union ist unsicher. Trotz den schlechten Erfahrungen, die Grossbritannien mit dem Brexit macht, und den in London anlaufenden Bemühungen, die Beziehungen zur EU wieder zu stärken, können in mehreren Mitgliedstaaten der EU Parteien an die Macht kommen, die sich von ihr abwenden oder sich weigern, ihren Regeln und Beschlüssen nachzukommen. Ungarn und Polen und demnächst wohl die Slowakei geben die Beispiele dafür. Österreich neigt zu Distanznahmen. In den Niederlanden werden Integrationsgegner gestärkt. Die Wahl Marine Le Pens zur französischen Staatspräsidentin kann einen Pfeiler der EU zum Einsturz bringen. Wie sich die Europapolitik der italienischen Regierung entwickelt, ist – man mag sagen: immerhin – offen. Migrationspolitisch droht die EU schon jetzt zu zerfallen.
Deshalb ist es notwendig, in die Überprüfung unserer europapolitischen Grundhaltung auch das Szenario eines Niedergangs oder Zerfalls der Europäischen Union einzubeziehen. Welches wären die Zerfallsprodukte? Ist ein Rückfall ins Europa vor dem Ersten Weltkrieg wahrscheinlich: Nationalstaaten ohne supranationale Bindungen, aber in konkurrierenden militärischen Bündnissen verbunden, die feindlich werden können? Damit stellt sich auch die Frage nach der Zukunft des europäischen Teils der NATO. Welche Rolle könnte und würde Russland bei einer solchen Transformation Europas spielen? Wird der Kreml einen Weg des politischen Entgegengehens auf willfährige Parteien und Regierungen hin wählen, oder wird er mit einer kriegserfahrenen und regenerierten Armee die Unsicherheit nutzen für rasche militärische Vorstösse Richtung Westen?
Wie würden sich die entfesselten Nationalstaaten und rivalisierenden Staatengruppen gegenüber der Schweiz verhalten? Die Frage ist nicht leicht zu beantworten. Aber es ist zu erwarten, dass die neu massgeblichen Mächte zu grossen Teilen rechtsradikal wären und das Prinzip “my country first” auf Spitzen treiben würden. Grösseres Entgegenkommen, als die EU der Schweiz gewährt, wäre von ihnen kaum zu erwarten. Sie könnten die Schweiz auch zu Entscheidungen über die Wahl der einen oder andern Partnerschaft zwingen, so wie sie sich aktuell durch die globalpolitische Rivalität zwischen den USA und China abzeichnen.
Eine Überprüfung der europapolitischen Grundhaltung der Schweiz wird wohl zur Einsicht führen, dass sie am Fortbestand zumindest einer süd-, west- und nordeuropäischen Union sehr interessiert ist, und dass sie überlegen muss, sich stärker dafür einzusetzen: Ihre europäische Solidarität und Kooperation zu stärken.