„Die Rede von der Rechts- und Wertegemeinschaft der EU wird mehr und mehr zur Fassade“, überschreibt Peter Rásonyi, Leiter der Auslandredaktion der NZZ, einen am 18.11.2020 erschienenen Kommentar: „Das Powerplay von Ungarn und Polen gegen einen schärferen Rechtsstaatsmechanismus unterwandert die ideellen Grundlagen der EU. Brüssel zieht daraus die falschen Schlüsse“ (Link zum Kommentar).
Auch wenn man dieser Analyse nicht in allen Teilen zustimmt – die EU befindet sich in einer tiefen Krise. Die Entscheidung, sich von autoritär geführten, aktuell die EU blockierenden Staaten zu trennen, fällt ihr begreiflicherweise schwer, denn sie muss damit rechnen, dass diese neue Koalitionen bilden: Mit Grossbritannien, mit allfälligen neugewählten EU-gegnerischen Regierungen in Italien oder Frankreich; Ungarn mit Russland (nicht aber das historisch und gegenwärtig mit Moskau verfeindete Polen) . Schwer vorhersehbar ist das europapolitische Potenzial der weiterhin mächtigen Trump-Republikaner.
Die Krise der EU erleichtert die Vertretung der schweizerischen Interessen, insbesondere die substanziellen Forderungen bezüglich des Institutionellen Rahmenabkommens, nicht unmittelbar. Sie vermindert sowohl die Kapazität als auch die Bereitschaft der Kommission, sorgfältig und entgegenkommend auf die Schweiz einzugehen. „Generalsekretariat und das Kabinett von Ursula von der Leyen haben die Dienststellen angewiesen, alle nicht dringlichen Kontakte mit der Schweiz auf Eis zu legen, bis beim Rahmenabkommen eine Einigung in Sicht ist“ berichtet Stephan Israel am 19.11.2020 im Tages-Anzeiger (S. 7): „Erster Kollateralschaden wäre die Beteiligung am Forschungsprogramm Horizon Europe, wo die Gespräche über eine Assoziierung jetzt eigentlich beginnen müssten, wenn die Schweizer Hochschulen ab nächstem Jahr dabei sein sollen.“ (Link zum Artikel hinter Paywall.)
Gerade wegen ihrer Krise wäre die EU interessiert, ihre Beziehungen zum „Sonderfall Schweiz“ mit seiner direkten Demokratie pfleglich und flexibel weiterzuentwickeln. Die Schweiz ist kein Volk von EU-Gegnern, aber deren Zahl und Einfluss könnte während einer mehrjährigen Kraftprobe, wenn die EU der Schweiz ernste Nachteile zufügen sollte, wachsen. Für eine EU-gegnerische Staatengruppe wäre die Schweiz eine begehrte Partnerin. An Kräften in der Schweiz, die gern eine solche Partnerschaft eingingen, fehlt es nicht. Erinnern wir uns daran, dass die AUNS Nigel Farage einlud. Und der Ressortleiter Europapolitik der SVP, Nationalrat Roger Köppel, pflegt gute Beziehungen zu EU-Gegnern ausserhalb der Schweiz.
Woran ist die Schweiz längerfristig interessiert? An einer Schwächung oder gar am Zerfall der EU? Was wären die Zerfallsprodukte? Rivalisierende Staatengruppen? Entfesselte Nationalstaaten? Eine Kombination von Beidem? Entfesselte Nationalstaaten haben die Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert vor grosse Probleme und Risiken gestellt. Gegenüber rivalisierenden Staatengruppen würden sich heikle Positionierungsfragen stellen, bis hin zur Neutralitätspolitik. Weder von entfesselten Nationalstaaten noch von rivalisierenden Staatengruppen kann die Schweiz grössere Rücksichtnahme auf ihre Interessen erwarten als von der EU.
Die EU ist an der Weiterführung guter Beziehungen zur Schweiz interessiert – aber die Schweiz auch am Fortbestand der EU mit einem grossen Teil ihrer Mitglieder. Und es gibt global- und handelspolitische Interessen Europas, zu deren wirksamen Vertretung die Schweiz zu klein, und deshalb an der EU interessiert ist.