Das Grundgesetz, die Verfassung Deutschlands, trage „die Handschrift weise gewordener Weimarer Politiker“, stellt Winkler fest und fasst die Konsequenzen, die sie aus dem Niedergang der Weimarer Republik und dem Aufstieg Hitlers an die Macht zogen, so zusammen:
„Nie wieder sollte in Deutschland eine Demokratie durch Mehrheitsbeschluss beseitigt werden können. Nieder wieder sollte es eine Verfassung einer Parlamentsmehrheit ermöglichen, ihre Verantwortung auf das Staatsoberhaupt (am Ende der Weimarer Republik Hindenburg, Red.) abzuschieben. Nie wieder sollten Kanzler oder Minister von einer negativen, regierungsunfähigen Mehrheit gestürzt werden können.“
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Nach der Bundestagswahl vom 26. September 2021 werden sich alle Parteiführungen bewusst sein, dass die Regierung, die sie jetzt bilden oder deren Bildung sie nolens volens hinnehmen müssen, dank dieser Weisheit der Verfassungsgeber nicht gestürzt werden kann – ausser durch eine neue parlamentarische Mehrheit, die einen anderen Kanzler, eine andere Kanzlerin wählt. Dass eine Oppositionspartei, die rechts der Regierung steht, dies gemeinsam mit einer Oppositionspartei zustande brächte, die links von ihr steht, könnte numerisch möglich sein, ist aber politisch ausgeschlossen.
Dies hat immer wieder die Bereitschaft gegnerischer Parteien geschaffen, tiefe Gegensätze zu überwinden und Koalitionen einzugehen. Bisher kam es auch nie zu einer Minderheitsregierung, weder von Anfang an noch infolge des Übertritts einer Regierungspartei in die Opposition – und dies obwohl das Grundgesetz auch eine Minderheitsregierung vor dem Sturz schützen würde, bis im Bundestag eine Kanzlermehrheit zustande käme. Einmal kam es zu einer neuen Kanzlermehrheit: Als die FDP 1982 die Regierung Helmut Schmidts verliess und in eine neue unter Führung Helmut Kohls eintrat.
Was in der Schweiz die Konkordanz bewirken SOLLTE – doch sie treibt mehr und mehr das Gegenteil voran -, bewirkt in Deutschland das Regierungssystem des Grundgesetzes: Eine stark abgestützte, für vier Jahre gesicherte Regierungspolitik. Allerdings zwingt dies die Regierungsparteien, in ihrem Innern eine Integrationsleistung zu erbringen, die immer schwerer und vielleicht eines Tages unlösbar werden kann: Ihre Basis mit den programmatischen Opfern zu versöhnen, die den Koalitionspartnern erbracht werden. 2017 kam die Führung der FDP zum Schluss, dass sie ihrer Basis eine Koalition mit Union und Grünen nicht zumuten könne. Nach vier erstaunlich unbeschadet verbrachten Oppositionsjahren kann sie erneut vor einer solchen Entscheidung stehen.
Dieses stabile Regierungssystem ist nicht ohne Nachteile. Das Mittragen einer Koalitionspolitik kann das Profil der Koalitionsparteien abschleifen, was auch den (vielleicht vorübergehenden) Aufstieg radikaler Parteien rechts und links erleichtern kann. Ob Profilverlust, der mitunter auch Angela Merkel persönlich angelastet wird, wirklich der Hauptgrund wäre, wenn die Unionsparteien den nächsten Kanzler nicht mehr stellen sollten, ist schwer zu beurteilen, da auch ihr Kanzlerkandidat Laschet Ursachen für den Misserfolg gesetzt haben dürfte. Ob sie wirklich eine bessere personelle Alternative gehabt hätten, ist ebenso schwer zu beurteilen: Söder? Merz? Röttgen? Spahn? Die Frage, wie jeder von ihnen sich im Wahlkampf behauptet hätte, bleibt hypothetisch.
Grosse Koalitionen müssten Ausnahmen bleiben: „In einem Parlament mit sechs Fraktionen können Bündnisse der beiden grössten Parteien gleichwohl auch künftig unvermeidbar werden“, schreibt Winkler: „Für die parlamentarische Demokratie unproblematisch sind sie aber nur dann, wenn ihnen eine starke und zugleich regierungsfähige Opposition gegenübersteht. Andernfalls droht die fortschreitende Erosion der politischen Mitte und eine weitere Stärkung des rechten Randes.“