Sie befinden sich hier:

Besinnung auf den Grund der demokratischen Stabilität Deutschlands.

"Ohne Weimar kein Bonn", schreibt der Historiker Heinrich August Winkler in "Die Kanzler", der soeben erschienenen Nr. 5/2021 der "ZEITGeschichte": "Auf diese Formel lässt sich ein wesentlicher Grund für die relative Erfolgsgeschichte der Demokratie im westdeutschen Nachfolgestaat des Deutschen Reichs seit 1949 bringen."

Das Grundgesetz, die Verfassung Deutschlands, trage „die Handschrift weise gewordener Weimarer Politiker“, stellt Winkler fest und fasst die Konsequenzen, die sie aus dem Niedergang der Weimarer Republik und dem Aufstieg Hitlers an die Macht zogen, so zusammen:

„Nie wieder sollte in Deutschland eine Demokratie durch Mehrheitsbeschluss beseitigt werden können. Nieder wieder sollte es eine Verfassung einer Parlamentsmehrheit ermöglichen, ihre Verantwortung auf das Staatsoberhaupt (am Ende der Weimarer Republik Hindenburg, Red.) abzuschieben. Nie wieder sollten Kanzler oder Minister von einer negativen, regierungsunfähigen Mehrheit gestürzt werden können.“

*

Nach der Bundestagswahl vom 26. September 2021 werden sich alle Parteiführungen bewusst sein, dass die Regierung, die sie jetzt bilden oder deren Bildung sie nolens volens hinnehmen müssen, dank dieser Weisheit der Verfassungsgeber nicht gestürzt werden kann – ausser durch eine neue parlamentarische Mehrheit, die einen anderen Kanzler, eine andere Kanzlerin wählt. Dass eine Oppositionspartei, die rechts der Regierung steht, dies gemeinsam mit einer Oppositionspartei zustande brächte, die links von ihr steht, könnte numerisch möglich sein, ist aber politisch ausgeschlossen.

Dies hat immer wieder die Bereitschaft gegnerischer Parteien geschaffen, tiefe Gegensätze zu überwinden und Koalitionen einzugehen. Bisher kam es auch nie zu einer Minderheitsregierung, weder von Anfang an noch infolge des Übertritts einer Regierungspartei in die Opposition – und dies obwohl das Grundgesetz auch eine Minderheitsregierung vor dem Sturz schützen würde, bis im Bundestag eine Kanzlermehrheit zustande käme. Einmal kam es zu einer neuen Kanzlermehrheit: Als die FDP 1982 die Regierung Helmut Schmidts verliess und in eine neue unter Führung Helmut Kohls eintrat.

Was in der Schweiz die Konkordanz bewirken SOLLTE –  doch sie treibt mehr und mehr das Gegenteil voran -, bewirkt in Deutschland das Regierungssystem des Grundgesetzes: Eine stark abgestützte, für vier Jahre gesicherte Regierungspolitik. Allerdings zwingt dies die Regierungsparteien, in ihrem Innern eine Integrationsleistung zu erbringen, die immer schwerer und vielleicht eines Tages unlösbar werden kann: Ihre Basis mit den programmatischen Opfern zu versöhnen, die den Koalitionspartnern erbracht werden. 2017 kam die Führung der FDP zum Schluss, dass sie ihrer Basis eine Koalition mit Union und Grünen nicht zumuten könne. Nach vier erstaunlich unbeschadet verbrachten Oppositionsjahren kann sie erneut vor einer solchen Entscheidung stehen.

Dieses stabile Regierungssystem ist nicht ohne Nachteile. Das Mittragen einer Koalitionspolitik kann das Profil der Koalitionsparteien abschleifen, was auch den (vielleicht vorübergehenden) Aufstieg radikaler Parteien rechts und links erleichtern kann. Ob Profilverlust, der mitunter auch Angela Merkel persönlich angelastet wird, wirklich der Hauptgrund wäre, wenn die Unionsparteien den nächsten Kanzler nicht mehr stellen sollten, ist schwer zu beurteilen, da auch ihr Kanzlerkandidat Laschet Ursachen für den Misserfolg gesetzt haben dürfte. Ob sie wirklich eine bessere personelle Alternative gehabt hätten, ist ebenso schwer zu beurteilen: Söder? Merz? Röttgen? Spahn? Die Frage, wie jeder von ihnen sich im Wahlkampf behauptet hätte, bleibt hypothetisch.

Grosse Koalitionen müssten Ausnahmen bleiben: „In einem Parlament mit sechs Fraktionen können Bündnisse der beiden grössten Parteien gleichwohl auch künftig unvermeidbar werden“, schreibt Winkler: „Für die parlamentarische Demokratie unproblematisch sind sie aber nur dann, wenn ihnen eine starke und zugleich regierungsfähige Opposition gegenübersteht. Andernfalls droht die fortschreitende Erosion der politischen Mitte und eine weitere Stärkung des rechten Randes.“

Bild von Ulrich Gut

Ulrich Gut

Ulrich Gut (1952), Dr. iur., wohnt in Küsnacht ZH. Der ehemalige Chefredaktor und Kommunikationsberater kommentiert auf Online Plattformen politische und gesellschaftliche Entwicklungen. Er präsidiert Unser Recht und ch-intercultur. 2009-2020 war er Zentralpräsident von Alzheimer Schweiz.

Beitrag teilen

PDF erstellen oder ausdrucken

Schreibe einen Kommentar

Die E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Pflichtfelder sind markiert *

Kommentar abschicken

Ähnliche Artikel

Ein neues Denkmal für Katharina von Zimmern? Was wissen wir über ihr Denken?

Das Zürcher Stadtparlament fordert ein neues Denkmal für Katharina von Zimmern (1478-1547), die letzte Äbtissin Zürichs. Was wissen wir über ihr Denken? Wie wichtig wäre es, mehr darüber zu wissen? Im Denkmälerstreit ging es bisher um bestehende Denkmäler für Menschen, deren Denken und Handeln wir heute teilweise oder gar vollständig ablehnen. Wie wenden wir diese Überlegungen an, wenn es um ein neues Denkmal geht?

Weiterlesen »

Taiwan, Ukraine und schweizerische Solidarität

Freundschaft unter den Parlamenten: Eine Mehrheit des Nationalrats will Taiwan mit einer paralleldiplomatischen Sonderbeziehung Solidarität bekunden. Aber der Wert solcher Solidarität beurteilt sich am Verhalten der Schweiz gegenüber der Ukraine.

Weiterlesen »

Schweiz-EU: Wenn es eine Volksinitiative braucht…

Das Initiativrecht ist kein Privileg der Abschotter und Abschotterinnen. Sonst wäre der Beitritt der Schweiz zur UNO nicht durch die Annahme einer Volksinitiative herbeigeführt und die Staatsvertragsinitiative der AUNS nicht hochkant verworfen worden. Aber wenn es sich bestätigt, dass es eine Volksinitiative braucht, um den ungehinderten Zutritt zu kontinentaleuropäischen Märkten und die Mitwirkung der Schweiz an der europäischen Forschungskooperation zu sichern, ist dies kein Ruhmesblatt für das politische System unseres Landes.

Weiterlesen »