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“So wird die Schweiz unregierbar”

Die "Zauberformel" wurde einst eingeführt in der Meinung, in der direkten Demokratie sei die Einbindung der vier grössten Parteien nötig und nützlich für die Regierbarkeit. Längst bewirkt sie mehr und mehr das Gegenteil. Stefan Schmid, Chefredaktor des "St. Galler Tagblatts", bringt dies klar und knapp auf den Punkt.

Auszug aus seinem Meinungsartikel unter dem Titel “So wird die Schweiz unregierbar”, erschienen in der “Schweiz am Wochenende” vom 17. August 2024 (Link zum Artikel hinter Paywall):

“Die Kompromissbereitschaft nimmt ab, Blockaden nehmen zu. Dem Parlament in Bern droht der Stillstand. (…)

Beispiel Erhöhung des Armeebudgets: Obwohl eine klare bürgerliche Mehrheit im Ziel übereinstimmt, die Streitkräfte zu stärken, sind die Räte bisher ausserstande, einen Beschluss herbeizuführen. Jüngst kam es in der Sicherheitspolitischen Kommission des Nationalrats gar zum Eklat. Eine unheilige Allianz zwischen Linken und SVP führte faktisch einen Nullentscheid herbei.

Beispiel AHV-Finanzierung: Auch hier zeichnet sich die Blockade ab. (…)

Das passiert in Bundesbern immer häufiger. Die Kompromisslosigkeit der Parteien wächst. Die SVP etwa lehnt schon lange konsequent alles ab, was nicht massgebend von ihr geprägt wurde. Ähnliche Tendenzen sind aber auch bei SP, Grünen und neuerdings der FDP auszumachen. Staatstragend und kompromissbereit? Attitüden aus der Vergangenheit. Permanenter Wahlkampf und Profilierungsneurosen ersetzen die mühsame Suche nach dem gemeinsamen Nenner. (…) Die Schweiz blickt auf eine lange Tradition des Aushandelns und des Interessensausgleichs zurück. Die direkte Demokratie zwingt die Akteure zur Mässigung.

Doch die Tendenz, jeden Deal zu zerzausen, wenn man sich nicht auf ganzer Linie durchgesetzt hat, nimmt in bedrohlichem Ausmass zu. Oder erinnert sich noch jemand an die letzte grosse Reform, die im Bundeshaus gelungen ist?”

*

Das drohende Scheitern der vertraglichen Stabilisierung der bilateralen Beziehungen zur EU würde zum nächsten Augenöffner.

Ursache dieser Entwicklung ist die sachpolitische Unverbindlichkeit der Wahlen in den Bundesrat. Die “Zauberformel”-“Konkordanz” wurde zu einer Lebenslüge der Schweiz (Link). Doch der Fortbestand des Prinzipe des Unverbindlichkeit ist so gut wie sicher. Zu gross ist das Interesse der Bundesratsparteien und der Parteien, die dies werden möchten, beliebig ihre Flügel und die ihnen nahestehenden Interessengruppen zu bedienen, zu befriedigen, zu begeistern.

Politologe Adrian Vatter schlug vor, das Parlament sollte von der Regierung in neuer Zusammensetzung verlangen, ein schriftliches Bekenntnis zur Erreichung bestimmter Ziele abzugeben – einen “Konkordanzvertrag” abzuschliessen, wie es Vatter nennt. Es gehe dabei nicht um ein Regierungsprogramm, wie es zum Beispiel in Deutschland üblich ist, sagt Vatter. “Sondern um eine Absichtserklärung, mit der sich die Regierung auf die wichtigsten Reformprojekte einigt.” Auch dieser Vorschlag bleibt wohl chancenlos.

Mehr dazu:

“Weitere Radikalisierung der SVP – die ‘Zauberformel’ macht sie möglich” (Link)

“Wird sich der Niedergang des Kollegialprinzips auf die Regierungsbildung auswirken?” (Link)

“‘Landesverrat’, ‘Gauner’, ‘Kurpfuscher’: Vorbereitung auf Abstimmungskampf um Stabilisierungsverträge” (Link)

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Ulrich Gut

Ulrich Gut (1952), Dr. iur., wohnt in Küsnacht ZH. Der ehemalige Chefredaktor und Kommunikationsberater kommentiert auf Online Plattformen politische und gesellschaftliche Entwicklungen. Er präsidiert Unser Recht und ch-intercultur. 2009-2020 war er Zentralpräsident von Alzheimer Schweiz.

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