Die Zauberformel gewährt den Anspruch auf Regierungsbeteiligung sachpolitisch bedingungslos. SP, SVP und potenziell auch die andern Regierungsparteien sind deshalb frei, zugleich Oppositionspartei zu sein. Die Juso konnten den Kurs der SP deshalb immer stärker bestimmen und radikalisieren, ohne damit die Regierungsbeteiligung zu gefährden.
Der Gang in die Opposition kann für eine Partei ein Gebot ihrer Glaubwürdigkeit sein. Er dürfte aber immer mit der Zielsetzung verbunden sein, gestärkt wieder in die Regierung zurückzukehren.
Dies erfordert eine Strategie zum vermehrten Stimmengewinn, wobei parteiungebundene Wechselwählerinnen und Wechselwähler gegen die Mitte hin und in der Mitte zum umworbenen Potenzial werden. Dies ist nicht im Interesse eines radikalen Parteiflügels. Ein solcher kann sich allmählich vor die Entscheidung gestellt sehen, sich mit seiner Schwächung abzufinden oder sich abzuspalten. Dank dem Unverbindlichkeitsprinzip der Zauberformel konnte sich die SP soweit nach links bewegen, dass andere Linksparteien, die es früher gab, wie Partei der Arbeit, Progressive Organisationen (POCH), Revolutionäre Marxistische Liga (RML) bedeutungslos wurden oder verschwanden. Ein Blick nach andern europäischen Ländern zeigt, dass dies nicht selbstverständlich ist. Da zum Beispiel die SPD links Raum freiliess, konnte sich bisher die Partei “Die Linke” halten. Für die Juso mag die Entwicklung in Frankreich verlockend sein: Niedergang der traditionellen Sozialdemokratie, Aufstieg der linksradikalen “France Insoumise”.
Analoges ist für die SVP festzustellen: Blocher verfolgte (wie seinerzeit Franz Josef Strauss in Bayern für die CSU) das Ziel, rechts von ihr keiner Partei Raum zu geben – Schweizer Demokraten und Autopartei wurden bedeutungslos, der Aufbau einer Partei der Corona-Massnahmengegner scheint nicht voranzukommen, und eine AfS harrt vielleicht noch ihrer Gründung – oder es gelingt Roger Köppel und Gleichgesinnten, die SVP insgesamt zur Schwesterpartei der AfD zu machen.
Wie die NZZ in ihrer Ausgabe vom 21.11.22 (Link) meldet, lehnte an der Juso-Versammlung eine SP-Bundesratskandidatin den Gang in die Opposition ab, weil er ein Zweiparteiensystem zur Folge hätte. Hoffentlich war dies ein Missverständnis. Denn ein Ende der Zauberformel würde das Parteienspektrum natürlich nicht auf zwei reduzieren, und nicht einmal notwendigerweise auf zwei Parteienblöcke. Sie würde die Parteien, die in der Regierung bleiben wollten, nur dazu zwingen, sich dem Wettbewerb mit einer grossen, regierungswilligen Oppositionspartei zu stellen. Hierfür wäre wohl eine Verständigung auf Regierungsziele und deren gemeinsame Vertretung im Parlament und vor Volksabstimmungen nötig. Mit der SVP ist dies nur schwer vorstellbar, aber die neue Lage könnte auch in der SVP die verbliebenen kooperativen Kräfte stärken. Leute wie Roger Köppel würden dann vielleicht tatsächlich ihre AfS gründen.
Es sei daran erinnert, dass die SP-Führung in die Opposition wollte, als 1983 ihre Bundesratskandidatin Lilian Uchtenhagen nicht gewählt wurde. Sie konnte sich nicht durchsetzen. Hat sich wohl die SP seither stark genug verändert, dass die Delegiertenversammlung dem Antrag der Juso zustimmen würde?
Siehe auch:
“Politologe Adrian Vatter schlägt Abschluss eines ‘Konkordanzvertrags’ vor” (Link)
“Braucht die Schweiz die ‘Zauberformel’, um regierbar zu sein?” (Link)