Neutralität oder Solidarität – es geht um Werte, Interessen und Grenzen des Möglichen.

Die schweizerische Bevölkerung ist fast ausnahmslos empört über den Angriffskrieg Putins und die Menschenrechtsverletzungen seiner Armee. Viele sind froh, dass die Schweiz diesmal nicht dazu schweigen muss - nicht wie damals gegenüber Hitler, über dessen Angriffskriege und Untaten das Schweizervolk auch mehrheitlich empört war, dessen Wehrmacht und SS jederzeit hätten in die Schweiz einmarschieren können. Aber selbst gegenüber Hitler hielt die Schweiz den Grundsatz hoch, dass staatliche Neutralität keine Gesinnungsneutralität der Bürgerinnen und Bürger erfordere.

Die Weiterentwicklung von Aussenbeziehungen und Sicherheitspolitik der Schweiz ist aber nicht nur eine Frage des ideellen und verbalen Einsatzes für Werte. Es geht auch um Interessen: Vorab um das Interesse der Schweiz daran, dass sich die europäischen Demokratien und Rechtsstaaten gegen den ideologischen und nun auch militärischen Angriff der Autoritären behaupten. Kann und soll die Schweiz dieses Interesse erkennen, ohne sich selbst dafür einzusetzen? Welche Resonanz und welche Haltung gegenüber der Schweiz können wir von den Demokratien erwarten, die wir – die NZZ voran* – zum stärkeren Widerstand aufrufen, wenn wir uns selbst nicht daran beteiligen? Wenn wir uns sogar dem Vorwurf aussetzen würden, aus unserer Passivität wirtschaftlichen Nutzen zu ziehen? Einem Vorwurf, den die Schweiz jetzt durch den grundsätzlichen Entscheid für die Beteiligung an den Sanktionen vermieden hat, sofern sie diesen konsequent umsetzt.

Es geht schliesslich auch um die Grenzen dessen, was einem Kleinstaat militärisch möglich ist. Der Präsident der FDP Schweiz, Thierry Burkart, hat soeben einen kräftigen Beitrag zur Enttabuisierung geleistet (Link). Hierzu ein Auszug aus einem Kommentar von Fabian Renz, Leiter der Bundeshausredaktion der Tamedia-Organe, erschienen am 9.4.22:

«Burkart greift damit einen gedanklichen Faden wieder auf, der vor ungefähr zwei Jahrzehnten abgerissen ist. Die Forderung nach mehr Nähe zur Nato ist nämlich nicht ganz neu: Erstmals aufgebracht wurde sie in den 90er-Jahren von der sogenannten Arbeitsgruppe Sicherheitspolitik um den damaligen FDP-Ständerat Otto Schoch. Es lohnt sich auch heute noch, das Argumentarium der Gruppe zu studieren. Die Schweiz sei Teil der europäischen Schicksalsgemeinschaft, betonten die Experten um Schoch. Man profitiere vom Schutz der Nato, halte sich jedoch unter dem Vorwand der Neutralität abseits – die Gruppe kritisierte dies als «Drückebergerei». «Die Schweiz», bilanzierte Schoch, «könnte ihre Armee um das Zehnfache aufrüsten, und sie könnte sich im Ernstfall immer noch nicht selbst verteidigen.»»

Wenn die Neutralität aussen- und sicherheitspolitisch nicht mehr haltbar ist, kann und soll sie als Strategie des nationalen Zusammenhalts in Reserve gehalten und wenn nötig und möglich reaktiviert werden im heute unwahrscheinlichen Fall, dass wieder Nachbarstaaten der Schweiz oder gar ganze Sprachregionen Europas zu Feinden werden.

*  Zum Beispiel Peter Rásonyi, Leiter der NZZ-Auslandredaktion, am 9.4.22: «Die Ukraine braucht mehr schwere Waffen zur Verteidigung Europas – und zwar dringend» (Link).

 

 

Vielen Dank fürs Lesen.

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