Die Landesregierung solle mitteilen, «dass die Schweiz keinen Anlass sieht, dem Urteil des Gerichtshofs vom 9. April weitere Folge zu geben. (…) Mit diesem Urteil betreibe der Gerichtshof «unzulässigen und unangemessenen gerichtlichen Aktivismus», hält die Kommission fest. Das Urteil «überschreitet die Grenzen der dynamischen Auslegung», und «die Grenzen der zulässigen Rechtsfortentwicklung» würden «überstrapaziert». (Link zum Bericht des Tages-Anzeigers).
Eine solche Erklärung würde an das Ministerkomitee des Europarates gehen. Dieses setzt sich aus den Aussenministern der Mitgliedstaaten des Europarates zusammen. Somit ist auch die Schweiz darin vertreten. Aussenminister Ignazio Cassis könnte und müsste über den Umgang mit einer schweizerischen Weigerungserklärung mitberaten.
Grundlage bildet Art. 46 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK):
„Verbindlichkeit und Vollzug der Urteile.
(1) Die Hohen Vertragsparteien verpflichten sich, in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen.
(2) Das endgültige Urteil des Gerichtshofs ist dem Ministerkomitee zuzuleiten; dieses überwacht seinen Vollzug.
(3) Wird die Überwachung des Vollzugs eines endgültigen Urteils nach Auffassung des Ministerkomitees durch eine Frage betreffend die Auslegung dieses Urteils behindert, so kann das Ministerkomitee den Gerichtshof anrufen, damit er über diese Auslegungsfrage entscheidet. Der Beschluss des Ministerkomitees, den Gerichtshof anzurufen, bedarf der Zweidrittelmehrheit der Stimmen der zur Teilnahme an den Sitzungen des Komitees berechtigten Mitglieder.
(4) Weigert sich eine Hohe Vertragspartei nach Auffassung des Ministerkomitees, in einer Rechtssache, in der sie Partei ist, ein endgültiges Urteil des Gerichtshofs zu befolgen, so kann das Ministerkomitee, nachdem es die betreffende Partei gemahnt hat, durch einen mit Zweidrittelmehrheit der Stimmen der zur Teilnahme an den Sitzungen des Komitees berechtigten Mitglieder gefassten Beschluss den Gerichtshof mit der Frage befassen, ob diese Partei ihrer Verpflichtung nach Absatz 1 nachgekommen ist.
(5) Stellt der Gerichtshof eine Verletzung des Absatzes 1 fest, so weist er die Rechtssache zur Prüfung der zu treffenden Massnahmen an das Ministerkomitee zurück. Stellt der Gerichtshof fest, dass keine Verletzung des Absatzes 1 vorliegt, so weist er die Rechtssache an das Ministerkomitee zurück; dieses beschliesst die Einstellung seiner Prüfung.“
Auf die Weigerungserklärung der Schweiz wäre Absatz 4 dieses Artikels anwendbar. Das Ministerkomitee würde also in einem ersten Schritt die Schweiz mahnen. Würde die Schweiz die Mahnung zurückweisen, so könnte das Ministerkomitee „durch einen mit Zweidrittelmehrheit der Stimmen der zur Teilnahme an den Sitzungen des Komitees berechtigten Mitglieder gefassten Beschluss den Gerichtshof mit der Frage befassen, ob diese Partei ihrer Verpflichtung nach Absatz 1 nachgekommen ist“. Es ist unwahrscheinlich, dass der Gerichtshof sodann von seinem Urteil Abstand nähme.
Letztlich müsste das Ministerkomitee wohl feststellen, dass die Schweiz Art. 46 Abs. 1 EMRK verletzt habe: Die Pflicht, „in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen“. Weder die Charta des Europarates noch die EMRK regeln in einem solchen Fall mögliche Sanktionen. Weder für die Schweiz noch für den Europarat könnte diese Auseinandersetzung zu einem klaren, zufriedenstellenden Ergebnis führen.
Weiterführend ist hingegen ein ebenfalls im Raum stehender Vorschlag, dass die Schweiz sich auf die Rolle der Konventionsstaaten als Gesetzgeber der EMRK besinnen und ein Zusatzprotokoll zu dem im KlimaSeniorinnen-Fall angewandten Artikel 8 EMRK, also dessen materielle Revision, initiieren solle. Da das Klimaurteil potenziell alle Konventionsstaaten betrifft, könnte die Schweiz hierfür durchaus Unterstützung finden. Eine vorangehende Weigerungserklärung könnte sich allerdings gegenteilig auswirken.
Siehe auch die Analyse des Urteils durch Bundesrichterin Dr. Julia Hänni (Link).