Die Schweiz steht nicht nur vor den Herausforderungen, die sich auch vielen andern Ländern stellen. Ihre politische Führung in Regierung und Parlament hat sich überdies unausgesprochen, aber unverkennbar für eine Kraftprobe von unabsehbarer Dauer mit der Europäischen Union (EU) entschieden. Sie kann dadurch in Versuchung geraten, vermehrt auf Partnerschaft mit aufsteigenden EU-gegnerischen Kräften in Grossbritannien, Ungarn, Polen, neuerdings Italien, vielleicht bald weiteren Staaten und erneut trumpistisch dominierten USA zu setzen – sich von ihnen umarmen zu lassen.
Dies würde einen neuen Graben durch unser Land ziehen. Eine Annäherung an die Kräfte der „illiberalen Demokratie“, wie Orban – bewundert von den neuen Mächtigen Italiens und Vertretern der SVP – das Konzept der nationalistischen Rechten nennt, wäre unvereinbar mit der liberaldemokratischen, auch gesellschaftspolitisch liberalen Grundhaltung, die eine Mehrheit der Stimmberechtigten unseres Landes bisher einnahm (wofür 2021 die Annahme der „Ehe für Alle“ ein kleines, aber deutliches Symptom war: Link). Und wie würde sich ein Zusammengehen der Schweiz mit EU-gegnerischen Kräften auf die Beziehungen zu den Nachbarn Deutschland und Frankreich und mehreren vorläufig noch integrativ gesinnten Mittel- und Kleinstaaten auswirken?
Das 50,3-Prozent-Nein zum Beitritt der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) von 1992 hatte Massnahmen zur Verständigung zwischen den Sprachregionen zur Folge. Nun stellen wir fest,
- dass eine etwas höhere Stimmbeteiligung in der Westschweiz zur Ablehnung der Angleichung des Frauen- ans Männer-Rentenalter geführt hätte:
- dass die Teilabschaffung der Verrechnungssteuer trotz den klaren bürgerlichen Mehrheiten, die sich aus den Wahlen in der Schweiz immer wieder ergeben, abgelehnt wurde;
- dass im Kanton Zürich, „Wirtschaftslokomotive“ der Schweiz, um ein Haar eine Volksinitiative der Alternativen Liste „gegen Steuergeschenke für Grossaktionärinnen und Grossaktionäre“ (Dividendenbesteuerungsinitiative) angenommen worden wäre (50,5 % Neinstimmen).
Was den „Röstigraben“ betrifft, so sind die Anstrengungen, die nach dem EWR-Nein unternommen wurden, inzwischen weitgehend versandet. Das Interesse der Sprachgruppen aneinander ist wohl geringer denn je. Und die politischen Gräben werden durch das System der sachpolitisch unverbindlichen Regierungsbeteiligung vertieft: Die Regierungsparteien können als Oppositionsparteien allem nachgehen, was sie für ihr strategisches Interesse halten, und machen kräftig davon Gebrauch.
Auch wenn die Voraussetzungen nicht ermutigend sind: Die Politik und die Gesellschaft insgesamt müssen sich des nationalen Zusammenhalts annehmen.