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Freiheitsbeschränkungen: Ein Grundsatz wird in Frage gestellt.

Der in Frage gestellte Grundsatz lautet: Die Notwendigkeit einer Freiheitsbeschränkung muss der Person gegenüber begründet werden, deren Freiheit beschränkt werden soll. Das ist nicht nur eine politische Forderung, sondern auch Verfassungsrecht. Selbst eine gesetzliche Grundlage würde nicht genügen. Die Einschränkung muss notwendig und verhältnismässig sein. Wenn eine mildere Massnahme genügt, muss die mildere getroffen werden. An der Geltung dieses Grundsatzes sind wir alle interessiert, ob geimpft oder nicht.

Will man eine Person, die zweimal geimpft, oder genesen und einmal geimpft, oder getestet ist, von einer Veranstaltung fernhalten, oder will man ihr den Besuch von Restaurants verunmöglichen, indem man gleich die Restaurants schliesst, muss dies dieser Person gegenüber begründet werden. Eine Begründung könnte lauten: Nach erhärteter und kaum mehr bestrittener wissenschaftlicher Erkenntnis ist es sehr wahrscheinlich, dass du das Virus trotzdem an Menschen weitergeben wirst, die schwer krank werden können, weil sie keine oder ungenügende Abwehrkräfte haben.

Der aktuelle Stand der bekannten wissenschaftlichen Mehrheitsmeinung ist aber ein ganz anderer: Die in der Schweiz verabreichten Impfungen reduzieren die Wahrscheinlichkeit der Weitergabe des Virus stark.

Darf man wegen dieser geringen Wahrscheinlichkeit eine Person von Veranstaltungen oder Restaurantbesuchen fernhalten, wenn dort Sicherheitskonzepte angewandt werden? Nein.

Nun mag sich jemand auf den Standpunkt stellen, selbst eine geringe Schädigungswahrscheinlichkeit verlange eine Freiheitsbeschränkung. Dem sind die Schäden entgegenzuhalten, die durch eine neuerliche Lähmung des gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Lebens entstünden. Es geht nicht an, grosse Schäden zu verursachen, um eine geringe Wahrscheinlichkeit anderer Schäden auszuschliessen.

Jede Autofahrt bringt andere Menschen in Gefahr. Aber unsere Gesellschaft hat längst entschieden, Autofahren zuzulassen. Wir Alle sind potenzielle Opfer unvorsichtiger Autofahrer, aber wer tritt für ein generelles Autofahrverbot ein? Nur mildere Massnahmen wie Tempobeschränkungen sind akzeptiert. Auch die Klimapolitik zielt nur darauf ab, die Zahl der Verbrennungsmotoren zu reduzieren, mittelfristig auf null.

Wenn der Staat nicht das Recht hat, die Freiheit eines Menschen grundlos oder unverhältnismässig einzuschränken, kann eine nicht geimpfte Person dies vom Staat auch nicht verlangen.

Das hat mit Zweiklassengesellschaft nichts zu tun. Das wird vielleicht verständlich, wenn man sich vorstellt, jemand, der keinen Fahrausweis hat, würde verlangen, dass Inhabern eines Fahrausweises das Autofahren verboten werde. Es sei unsolidarisch, dass sie Auto führen, und führe in eine Zweiklassengesellschaft. Kaum jemand würde eine solche Forderung unterstützen – egal, ob die Person, die keinen Fahrausweis hat, nicht in die Fahrschule und zur Fahrprüfung gehen WOLLTE, oder ob sie dies aus medizinischen Gründen nicht KONNTE.

Es ist zu befürchten, dass eine akut drohende oder bereits eingetretene Überlastung der Spitäler und insbesondere der Intensivpflege erneut zu Shutdown-Massnahmen führt. Aber man sollte ein Runterfahren des gesellschaftlichen, kulturellen, sportlichen, wirtschaftlichen Lebens nicht mit “Solidaritäts”- und “Klassen”-Rhetorik herbeizureden versuchen.

Was nützt einer Person, die sich nicht impfen lassen konnte oder wollte, die unnötige Beschränkung der Freiheit Anderer? Was nützen ihr die Schäden, die ein unverhältnismässiger Shutdown verursacht?

Je besser sich die Gesellschaft sich trotz Pandemie entwickelt, desto besser auch für die Nichtgeimpften.

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Ulrich Gut

Ulrich Gut (1952), Dr. iur., wohnt in Küsnacht ZH. Der ehemalige Chefredaktor und Kommunikationsberater kommentiert auf Online Plattformen politische und gesellschaftliche Entwicklungen. Er präsidiert Unser Recht und ch-intercultur. 2009-2020 war er Zentralpräsident von Alzheimer Schweiz.

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