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Wer ist “bürgerlich”?

In den Kantonen, in denen SVP und FDP Wahlallianzen eingingen, erhoben sie exklusiven Anspruch, "bürgerlich" zu sein. Was ist heute unter "bürgerlich" zu verstehen? Wie entwickelt sich die Mobilisierungskraft des Anspruchs auf "Bürgerlichkeit"?

“Das Attribut ‘bürgerlich’ ist diffus und mehrdeutig, ja auch nichtssagend geworden”, schreibt René Rhinow in seinem Buch “Freiheit in der Demokratie. Plädoyer für einen menschenwürdigen Liberalismus” (Zürich 2022). “Der Liberalismus braucht diese überholte Kategorie nicht. Trotzdem nimmt der Begriff noch einen beträchtlichen Raum ein. (…) Politexponentinnen und -exponenten beanspruchen für sich, ‘echte’ Bürgerliche zu sein, ohne dass jedoch stringent erläutert würde, worin sich Bürgerlichkeit oder gar eine sogenannte ‘echte’ Bürgerlichkeit heute manifestieren soll. Oft werden die Kategorien Bürgerlichkeit und Antistaatlichkeit, synonym verwendet.” (Weiterer Auszug siehe unten.)

Leonhard Neidhart stellt in seinem Artikel “Bürgerliche Parteien” im Historischen Lexikon der Schweiz fest, das Attribut “bürgerlich” werde “sowohl als positive Selbst- wie auch als negative Fremdbezeichnung des Gegners, zum Beispiel von Seiten der Sozialdemokratischen Partei, verwendet. Ab dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts bildete der Gegensatz von Bürgerlichen und Linken die wichtigste Trenn- und Konfliktlinie der Schweizer Politik.” Zu Beginn des 21. Jahrhunderts, so Neidhart, hätten Freisinnig-Demokratische Partei, Liberale Partei, Christlichdemokratische Volkspartei, Schweizerische Volkspartei und “verschiedene kleinere Parteien, welche in der Parteienlandschaft rechts angesiedelt sind”, zu den bürgerlichen Parteien gezählt.

Die Selbstverständlichkeit dieses Verständnisses von Bürgerlichkeit und Bürgerblock ging vor allem aus drei Gründen verloren:

  • Erstens weil zwischen und innerhalb dieser Parteien gegenüber wichtigen Herausforderungen wie Klimaschutz, Europapolitik, Gesellschaftspolitik (Gleichstellung der Geschlechter, freie Wahl des Beziehungslebens) unterschiedliche Haltungen eingenommen wurden,
  • zweitens weil die SVP sich programmatisch und methodisch, teils sogar unter dem Einfluss von Vorbildern wie dem “illiberalen” Viktor Orban, Donald Trump und von AfD-Grössen wie Alice Weidel, so radikalisiert, dass ihre Bürgerlichkeit heute in Frage gestellt werden muss (siehe unten, Auszug Rhinow: Bourgeois als Citoyen),
  • und drittens durch das Auftreten der Grünliberalen.

Wer das Attribut “bürgerlich” weiterhin verwenden will, nimmt nun auch in verschiedenen Politikbereichen Ab- und Ausgrenzungsversuche vor. Eine Nationalrätin, die den Gewerbeflügel der Mittepartei vertritt, erklärt gegenüber der NZZ, bürgerlich sei das Ja zur Pistenverlängerung am Flughafen Zürich (Nicole Barandun, NZZ 21.11.23, S. 11). So können Politikerinnen und Politiker, die sich als bürgerlich verstehen, in den ihnen wichtigen Politikbereichen sektorielle Verständnisse von Bürgerlichkeit geltend zu machen versuchen.

Die eidgenössischen Wahlen 2023, vor allem die zweiten Wahlgänge in den Ständerat, zeigten aber die schwindende Mobilisierungskraft des exklusiven Anspruchs auf Bürgerlichkeit. Viele Wählerinnen und Wähler, die sich nicht im geringsten als links verstehen, verweigerten den durch die FDP unterstützten SVP-Kandidaten die Stimme. In den Kantonen Aargau und Zürich, deren Stimmberechtigte in Sachabstimmungen mehrheitlich den Empfehlungen der Parteien mitte-rechts folgen, wurden die  Kandidatinnen der Mittepartei bzw. der Grünliberalen gewählt, in den Kantonen Solothurn und Schaffhausen sogar eine Kandidatin bzw. ein Kandidat der SP.

*

Auszug aus René Rhinow, “Freiheit und Bürgerlichkeit”, in “Freiheit in der Demokratie. Plädoyer für einen menschenwürdigen Liberalismus” (Hier und Jetzt Verlag, Zürich 2022):

“(…) Als Ausgangspunkt der Geschichte der Bürgerlichkeit gilt die von Jean-Jacques Rousseau eingeführte Unterscheidung von Citoyen und Bourgeois. Citoyen ist der Staatsbürger, der in der Tradition und im Geist der Aufklärung aktiv und eigenverantwortlich am Gemeinwesen teilnimmt und dieses mitgestaltet. (…) Wenn später vom Bourgeois gesprochen wurde, stand weitgehend der freie und unabhängige Bürger im Fokus. Ihm geht es um autonome Lebensgestaltung, Wohlfahrt und Wohlstand sowie Machtbegrenzung und Machtkontrolle. Dieser Bourgeois übernimmt gleichzeitig als Citoyen auf dem Boden der res publica Verantwortung für das Gemeinsame. Er versucht in den Worten Georg Kohlers, ‘das Eigene und die persönliche Selbständigkeit mit den Forderungen des Ganzen in ihrer vorläufigen Balance zu halten’. Der Citoyen untersteht freier Gleichheit und gleicher Freiheit, während der Bourgeois auf individuelle Freiheit und Differenz pocht.

Die von der Bewegung des Freisinns erfasste bürgerliche Gesellschaft in der Schweiz zeichnete sich durch eine republikanische Vaterlandsverehrung, eine soziale Verantwortung, ein starkes Engagement für den Ausbau der Infrastruktur und einen tiefen Glauben an die auszubauende Demokratie aus. (…) Freiheit und Gemeinsinn verbanden sich und prägten eine politische Kultur, welche vom Bewusstsein politischer Zusammengehörigkeit genährt wurde. (…)

Der historisch eindrückliche Prozess der Verbürgerlichung in der Schweiz begann nach dem Generalstreik und den Wahlen von 1919 zuerst mit der erfolgreichen Integration der Katholisch-Konservativen und der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB). (…) Dieser Prozess der Verbürgerlichung setzte sich in den 1930-er Jahren fort, indem Schritt für Schritt auch die Linke (die Arbeiterbewegung) die bürgerlichen Werte anerkannte: mit dem Bekenntnis zu den Grundwerten der Bundesverfassung unter Einschluss der militärischen Landesverteidigung, der Neutralität und der sozialen Marktwirtschaft – somit auch mit der Absage an den Klassenkampf und durch den Übergang zur Sozialpartnerschaft, was schliesslich 1943 zur Aufnahme der ‘regimentsfähig’ gewordenen Sozialdemokratischen Partei in den Bundesrat führte. Diese Verbürgerlichung fand aber interessanterweise keinen Widerhall im politischen Sprachgebrauch. Die  weiterhin bestehenden, teilweise beträchtlichen Unterschiede zwischen rechten und linken Parteien betreffen vor allem die Wirtschafts- und Sozialpolitik und damit das Ausmass von Staatsverantwortung und staatlicher Regulierungstätigkeit. Der politische Terminus ‘bürgerlich’ blieb bis heute den traditionell bürgerlichen Parteien vorbehalten. Auf der anderen, rechten Seite des politischen Spektrums spielte sich das Umgekehrte ab. Die Schweizerische Volkspartej mit ihrer bürgerlichen BGB-Tradition behält unangefochten dieses Attribut, ohne dass ihre Politik an den Kriterien der Bürgerlichkeit gemessen würde. (…)”

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Ulrich Gut

Ulrich Gut (1952), Dr. iur., wohnt in Küsnacht ZH. Der ehemalige Chefredaktor und Kommunikationsberater kommentiert auf Online Plattformen politische und gesellschaftliche Entwicklungen. Er präsidiert Unser Recht und ch-intercultur. 2009-2020 war er Zentralpräsident von Alzheimer Schweiz.

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