Eine falsche Behauptung der SVP wird nicht richtig, wenn sie von einem Nationalrat der Mittepartei wiederholt wird. Nationalrat Thomas Rechsteiner, der in einer Motion die Kündigung der EMRK fordert, sagt der “NZZ am Sonntag”: “Die Schweizer Verfassung garantiert die Menschenrechte ebenfalls. Es reicht, wenn man vor Bundesgericht klagen kann” (30.6.24, Seite 13).
Nach Artikel 190 der Bundesverfassung ist das Bundesgericht an Bundesgesetze und Völkerrecht gebunden. Die EMRK ist Völkerrecht, und somit für das Bundesgericht beachtlich. Würde die Schweiz die EMRK kündigen, wäre das Bundesgericht auch an Gesetzesbestimmungen gebunden, die Grundrechte verletzen, die in der Bundesverfassung garantiert sind.
Aber was verstehen wir eigentlich unter “garantiert”? Eine Grundrechtsgarantie, die nicht durch ein Schutzverfahren gesichert ist, ist keine Garantie, sondern eine Deklamation, ein Appell.
Wenn den Motionären für die Kündigung der EMRK wirklich an der Garantie der Grundrechte der Bundesverfassung gelegen wäre, hätten sie ihren Motionen einen zweiten Teil beifügen müssen: Auf eine Änderung von Artikel 190 BV, sodass das Bundesgericht künftig Bundesgesetze auf Verletzung der Grundrechte der BV hin überprüfen und die Anwendung von Gesetzesnormen, die verfassungsmässige Grundrechte verletzen, aufheben könnte.
Wie Nationalrat Rechsteiner zu einer solchen Revision stünde, ist nicht bekannt. Aber die SVP war immer gegen die Einführung einer Verfassungsgerichtsbarkeit. Mit der Kündigung der EMRK würde sie zugleich beseitigen, was für sie ein Ärgernis ist: Den bundesgerichtlichen Schutz der Menschen in unserem Land vor Gesetzesbestimmungen, die die Grundrechte der Bundesverfassung verletzen.
Siehe auch: “SVP verlangt Kündigung der EMRK – mit einer falschen Behauptung” (Link)