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Legitimität kontra Legalität? Teile der Klimajugend revitalisieren diese Debatte.

Wer die 68er-Bewegung erlebt oder sich mit ihr befasst hat, kennt die Berufung auf Legitimität, um sich von der Bindung an die Legalität, ans geltende Recht, loszusagen. An die damaligen Überlegungen dazu kann und sollte angeknüpft werden.

Voran sei eine Absage an eine Form von Rechtspositivismus gestellt: Nach dem Sturz von Nationalsozialismus und Faschismus wurde breit anerkannt, dass nicht alles, was im Kleide staatlichen Rechts daherkommt, befolgt werden muss und darf. Die Erlasse zur Verfolgung und Vernichtung der Juden waren, obwohl von staatlichen Stellen kommend, kein Recht. Um die Staaten an Erlass und Durchsetzung von Unrechtsnormen zu hindern, schufen sie – auch zur Selbstbindung – internationale Konventionen und Gerichtsverfahren zum Schutz der Menschenrechte, zum Beispiel die Europäische Menschenrechtskonvention mit ihrem Gerichtshof in Strassburg. In der Abstimmung über die sogenannte Selbstbestimmungsinitiative der SVP bekannten sich Volk und Stände der Schweiz mit klarer Mehrheit zum eur0päischen Menschenrechtsschutz. Autoritäre Regierungen in Europa zeigt jetzt aber, dass dieser keineswegs selbstverständlich ist und für seinen Fortbestand politisch gekämpft werden muss.

Wenn aber unter Berufung auf Legitimität – oder deren angebliches Fehlen – die Geltung demokratisch erlassener, menschenrechtskonformer Verfassungs- oder Gesetzesbestimmungen bestritten wird, haben wir es mit Eigenmächtigkeit zu tun: Mit Individuen und Gruppen, die selbst bestimmen wollen, was für sie und für Andere gilt. “Ziviler Ungehorsam” richtet sich gegen Mehrheiten in Parlament und Volk, denen vorgeworfen wird, falsches, ungenügendes Recht gesetzt zu haben, eine falsche, ungenügende Politik zu fahren. Man nimmt zur Kenntnis, dass Aktivistinnen und Aktivisten, die angebliche Legitimität kontra Legalität stellen, die Auswirkungen des Verhaltens der demokratischen Mehrheiten auf die Klimaentwicklung für katastrophal halten, auch für sich selbst, und deshalb auch quasi Notwehr geltend machen. Ausser Kraft setzen wollen sie zum Beispiel das Nötigungsverbot – mehr hierzu hier.

Gegenüber dem Anspruch und Willen, unter Berufung auf Legitimität die Bindung an die Legalität aufzuheben, ist die Frage zu stellen, wie sich dies – über den Politikbereich hinaus, der Klima-Aktivist*innen interessiert – verallgemeinern würde: Wenn etwa Steuerhinterziehung nicht mehr als illegal, sondern in wachsenden Teilen der Bevölkerung als legitim betrachtet würde. Wenn Automobilisten den Anspruch erhöben, selbst zu beurteilen, welche Geschwindigkeit auf einer bestimmten Strecke angemessen ist. Mit zu diskutieren ist auch, dass das demokratisch erlassene Recht und dessen Durchsetzung einem gewaltfreien Zusammenleben in der Gesellschaft dienen soll. Wer sich nicht mehr ans Recht halten will, muss auch mit Widerständen rechnen, die nicht mehr legal sind. Nicht alle, die genötigt werden, werden dies auf die Dauer duldsam und friedlich wie Lämmer hinnehmen. Die Rechtsordnung ist auch eine Basis der Gewaltfreiheit im Umgang von Individuen und Gruppen mit unterschiedlichen Interessen und Überzeugungen.

Abschliessend sei noch auf eine soziologisch-politologische Legitimitätsdogmatik hingewiesen: Etwa auf das Werk des Soziologen Max Weber, der dargelegt hat, dass jede politische Ordnung eine Legitimitätsgrundlage braucht, um Bestand zu haben: Tradition, Glauben oder Satzung. Das ist im Idealfall eine Legitimation durch anerkannte demokratische und freiheitliche Verfahren. Es kann aber auch eine traditionalistische oder – gefährlich – eine charismatische sein.

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Ulrich Gut

Ulrich Gut (1952), Dr. iur., wohnt in Küsnacht ZH. Der ehemalige Chefredaktor und Kommunikationsberater kommentiert auf Online Plattformen politische und gesellschaftliche Entwicklungen. Er präsidiert Unser Recht und ch-intercultur. 2009-2020 war er Zentralpräsident von Alzheimer Schweiz.

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