Die Interviewerin hatte den Aussenminister darauf angesprochen, dass der Bundeskanzler und auch Schallenberg, anders als die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, bisher kaum Kritik an Trump geäussert hätten. Schallenberg begrüsste die Gelegenheit, grundsätzlich zu antworten: Österreich wähle sein Gegenüber nicht aus. Österreich werde mit jedem amerikanischen Präsidenten, so eng es nur geht, zusammenarbeiten, solange er gewisse Grenzen nicht überschreite. Die Vereinigten Staaten seien die Weltmacht Nummer 1 in dieser Gruppe der Staaten, die noch unser westliches Lebensmodell vertreten. Da sei eine Zusammenarbeit schon im eigenen Interesse notwendig. Auf Nachfrage der Interviewerin liess der Aussenminister aber erkennen, dass er der Zusammenarbeit mit Präsident Biden zuversichtlich entgegensieht, vor allem weil unter Biden die USA wieder in den internationalen Organisationen kooperieren würden.
Zuvor hatte Schallenberg festgestellt, dass die Vorgänge vom Mittwoch in Washington eine verheerende Wirkung für das Bild der Demokratie als solcher hätten. Dies könne Österreich als engem Partner der Vereinigten Staaten nicht egal sein. Die Vereinigten Staaten könnten aber sicher sein, dass EU und Staaten wie Österreich auch in Zukunft solidarische und verlässliche Partner sein werden. Nur noch 25 % der Staaten teilten unser sogenanntes westliches Lebensmodell. Wir hätten alles Interesse, nicht nur eng zusammenzuarbeiten, sondern auch diese Werte nach aussen zu tragen.
Link zum Interview.
Aus der Nordamerika-Webseite des österreichischen Bundesministeriums für europäische und internationale Angelegenheiten (Link):
“Seit 2019 gibt es eine strategische Partnerschaft Österreich-USA, die sich u.a. auf die Gebiete Justiz und Inneres, Cybersicherheit, Kooperation am Westbalkan, Wirtschaft und Investitionen, Wissenschaft und Forschung sowie Auslandskultur erstreckt. Die österreichische Expertise bei Missionen der Friedenssicherung (im Rahmen der Vereinten Nationen, der NATO oder der EU) wird von den USA geschätzt. Im konsularischen und polizeilich-justiziellen Bereich kooperieren die USA und Österreich u.a. bei der Bekämpfung des Terrorismus.”
Bezüglich der Neutralität erweckt eine rasche Online-Recherche den Eindruck, dass Österreich sie nicht förmlich aufgehoben, aber hinter die Solidarität und hinter die Partnerschaft von EU und NATO zurückgestellt hat.
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Es drängt sich auf, diese Neuorientierung der österreichischen Aussenpolitik zum Anlass für Überlegungen zur Entwicklung der schweizerischen Aussen-, Sicherheits- und Neutralitätspolitik zu nehmen. Die Zugehörigkeit zu einer Wertegemeinschaft und der Einsatz für deren Werte gewinnt in der Schweiz an Zustimmung. Dies kann aber durchaus mit einem Willen zu stärkerer Eigenständigkeit gegenüber den USA verbunden sein, als sie für Österreich aus den Ausführungen des Aussenministers hervorgeht, insbesondere im Vergleich zwischen Österreich und Deutschland. Die Frage nach der Zukunft der schweizerischen bewaffneten Neutralität und der Neutralitätspolitik wird sich allerdings nicht nur unter dem Aspekt der Wertegemeinschaft, sondern wohl mindestens ebensosehr infolge der technischen Entwicklung der Verteidigungssysteme stellen.
Die “klare transatlantische Orientierung” Österreichs wäre wohl in der Schweiz so explizit nicht mehrheitsfähig. Man muss sich allerdings bewusst sein, dass in der Realität die schweizerische Sicherheitspolitik schon lange auf internationale Zusammenarbeit angewiesen ist. Wollte man auch die Zugehörigkeit zu einer Wertegemeinschaft ernster nehmen, würde dies wohl primär die Unterbietung der EU in Beziehungen wie gegenüber China und Saudiarabien ausschliessen. Dabei bleibt Handlungsfreiheit für eine Verständigungspolitik im Interesse der Kriegsverhinderung, wie sie auch Deutschland praktizierte, damit aber möglicherweise infolge stark steigender Spannungen mit Russland an eine Grenze stiess.