Jacques Attali war Berater des französischen Staatspräsidenten François Mitterrand. Auszug aus seinem Artikel unter dem Titel „La guerre entre la France et l’Allemagne devient possible“ (Link):
„Rien n’est plus grave, pour l’avenir de la France, que ce qui se passe en ce moment avec l’Allemagne. Rien n’est plus grave, pour l’Allemagne, que ce qui se passe en ce moment avec la France.
Il ne s’agit en rien d’une dispute de personnes, ni même d’une différence d’appréciation d’un même enjeu, celui de l’accès à l’énergie. Il s’agit d’une différence profonde d’intérêts stratégiques à long terme. (…)
Ce qui a empêché, pendant soixante ans, ces divergences de devenir des sources de rupture, c’est que les hommes et femmes politiques de ces deux pays avaient, dans leur chair, la marque de ce à quoi avait conduit une rupture franco-allemande : trois guerres en un siècle. Trois guerres de plus en plus abominables. Et ils savaient faire les concessions nécessaires pour que jamais cela ne recommence. (…)
Aujourd’hui, les dirigeants de ces deux pays n’ont pas le même passé. Aucun n’a vécu de près les malheurs, ni même les conséquences des malheurs, de la seconde guerre mondiale. Beaucoup d’entre eux pensent d’ailleurs que la paix entre nos deux nations est une donnée garantie pour les siècles à venir. Et qu’ils peuvent allégrement prendre des voies divergentes sans rien risquer d’essentiel.
C’est dramatiquement faux. Si nous ne reprenons pas au plus vite le chemin du progrès dans l’intégration européenne, en faisant chacun des concessions à l’autre, toute la construction des soixante dernières années s’effondrera. Très précisément : si on ne construit pas une armée européenne, c’est la Banque Centrale Européenne qui sera remise en cause. Une nouvelle guerre franco-allemande, redeviendra possible, avant la fin de ce siècle. (…)“
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Auszug aus „Europa abgemeldet“, Gastbeitrag von Daniel Cohn-Bendit und Claus Leggewie in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 17.11.2022; der Titel in der Online-FAZ ist zurückhaltender: „Deutsch-französische Beziehung: Keine Angst vor Frankreich“ (Link):
„Europa ist durch den Ukraine-Krieg gewaltig ins Schleudern geraten. Um auf der Spur zu bleiben, konnte man bisher stets auf die deutsch-französische Achse setzen. Glaubt man französischen Kommentatoren, ist darauf nun kein Verlass mehr; der einstige Mitterrand-Berater Jacques Attali hat sogar den nächsten Kriegsausbruch zwischen den Erbfreunden noch in diesem Jahrhundert für möglich erklärt (F.A.Z. vom 11. November).
Das ist maßlos übertrieben, deutet aber auf eine politische Entfremdung hin, der beide Seiten mittlerweile offen Nahrung geben. Hinter dem Klein-Klein der Energiefragen steckt ein strukturelles Problem, das der Krieg in grelles Licht gesetzt hat: Europa ist ohne amerikanisches Rückgrat nicht verteidigungsfähig, in der Migrationsfrage ist es handlungsunfähig, und seine Ausgangslage als Wirtschaftsmacht hat sich drastisch verschlechtert, ganz abgesehen davon, dass Europa aufgrund der ausgebliebenen Energiewende auch beim Klima- und Artenschutz ins Hintertreffen geraten ist. In solchen Lagen macht man auf beiden Seiten des Rheins nationale Alleingänge, und dabei werden Feindbilder aktiviert, die unwiderruflich passé schienen.
Es fehlt nicht an Beteuerungen, in Sachen Verteidigung, Migration und Energie nun aber wirklich enger zusammenarbeiten zu wollen, also nicht länger 27 untaugliche Armeen und sinnlose Rüstungsprojekte zu dulden, Flüchtlinge nicht an südlichen Küsten und in östlichen Wäldern (und juristisch an „Dublin“) stranden und Öl, Gas und Kohle „nach dem Krieg“ wirklich auslaufen zu lassen. Mit dem Terminus „politische Gemeinschaft“ signalisierte man der Ukraine, Moldawien und dem westlichen Balkan die Möglichkeit eines etappenweisen EU-Beitritts.
Dabei die Lage ist paradox: In dem Maß, wie der Fokus der EU sich auf Osteuropa verschiebt, wird der Nationalstaat zur alles bestimmenden Messlatte. Polen hat sich in der Ukraine-Krise zu einem politischen Schwergewicht entwickelt, das die eklatanten Rechtsstaatsverletzungen fast vergessen macht und in alle Richtungen als Leuchtturm nationaler Interessenwahrnehmung und Exempel eines „gesunden Patriotismus“ strahlt. Den Beifahrersitz im deutsch-französischen Tandem, der Polen unter dem Label „Weimarer Dreieck“ einmal zugewiesen wurde, kann das Land selbstbewusst verschmähen. Heute muss keine Regierung mehr mit dem Exit drohen; Skeptiker wie Viktor Orbán geben den Ton an, denen die Erweiterung zu weit und die Vertiefung der Europäischen Union zu tief ist. (…)
Unter diesen Voraussetzungen bleibt die Zeitenwende ein blasses Motto, die Bundeskanzler Scholz bei seiner Prager Rede im August für ganz Europa ausgerufen hat. Die gemeinsame Verteidigung, die finanz- und fiskalpolitische Harmonisierung, der Energie-Binnenmarkt, die Anbahnung legaler und sicherer Migrationswege, die europäische Kreislaufwirtschaft – all das ist seither keinen Schritt vorangekommen. Weder Angela Merkel noch ihr Nachfolger haben in Paris und Brüssel darauf hingewirkt und die Kooperationsangebote angenommen. Scholz‘ Petitum, an Stelle des lähmenden Einstimmigkeitsprinzips Mehrheitsentscheidungen in der EU auszuweiten, wird durch die Alleingänge des Kanzlers selbst konterkariert und wirkungslos bleiben. (…)“
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Auch ohne Dramatisierung ist unverkennbar, dass das integrierte Europa in eine gefährliche Krise geraten ist, die sich weiter verschärfen kann. Gefährdet ist vor allem die liberale, rechtsstaatliche Staats- und Gesellschaftsform: Gefährdet von innen, durch den Einflussgewinn autoritärer Führungen wie der polnischen und der ungarischen und je nach Wahlergebnissen künftig weiterer, und von aussen durch die totalitären Supermächte. Die Partnerschaft zwischen Deutschland und Frankreich war der harte Kern der europäischen Integration. Interessengegensätze und mangelnder Wille der Regierungen, diese auszugleichen, gefährden ihn.
In dieser Lage steht die offizielle Schweiz aussen vor. Sie trägt nichts zur Stärkung, nichts zur Stabilisierung der europäischen Integration bei, sondern findet sich seit dem Abbruch der Verhandlungen über das Rahmenabkommen mit einer Entwicklung ab, die fortwährend Interessenkonflikte verschärft und neu schafft: Zwischen der Schweiz und der Europäischen Union, zwischen der Schweiz und ihren Nachbarländern. Die schweizerischen Hard-Core-Souveränisten werden den Niedergang der Europäischen Union, den Wiederaufstieg entfesselter Nationalstaaten sogar begrüssen, und werden geltend machen, die EU schon immer für ein Fehlkonstrukt gehalten zu haben.
Es ist Zeit, darüber nachzudenken, wie es sich auf die aussenpolitischen und aussenwirtschaftlichen Interessen der Schweiz auswirken würde, wenn die EU zerfiele. Wie war es um die Interessen, um die Sicherheit der Schweiz bestellt von den Revolutions- und Napoleonischen Kriegen über den Deutsch-Französischen Krieg zum Ersten Weltkrieg, zur Zwischenkriegszeit und zum Zweiten Weltkrieg? Dank Geschick und Glück überstand die Schweiz den Zweiten Weltkrieg unbesetzt und unversehrt. Weite Teile des schweizerischen politischen Spektrums haben dies nie als Auftrag erachtet, an Nachkriegs-Europa mitzubauen.
Zeitenwende: Der Moment, diese Haltung zu ändern, ist gekommen.