Es ist in vielen schweizerischen Köpfen von Jugend an fest verankert, wurde von Generation zu Generation erfolgreich weitergegeben: Die Politik unserer Nachbarländer, vor allem Deutschlands, sei heillos zerstritten. Die schweizerische Zauberformel-„Konkordanz“ dagegen, die sachpolitisch bedingungslose Aufnahme der vier wählerstärksten Parteien in die Regierung, trage entscheidend zur politischen und ökonomischen Überlegenheit, zur Spitzenstellung unseres Landes in Europa und der Welt bei. Teils fasziniert, teils abgestossen verfolgt man die rhetorischen Raufereien im deutschen Bundestag oder im britischen Unterhaus.
Umso mehr müssten wir darüber staunen, dass deutsche Parteien, die jahraus jahrein den Anschein hervorrufen, ausser einem Bekenntnis zum demokratischen Rechtsstaat kaum Gemeinsamkeiten zu haben, nach den Parlamentswahlen fähig sind, eine Regierung mit parlamentarischer Mehrheit zu bilden. Der Preis für jede Regierungspartei ist hoch. Sie riskiert, durch die Kompromisse, die sie eingeht, Teile ihrer Basis vor den Kopf zu stossen und zu verlieren. Das kann eine Partei davon abhalten, sich an der Regierung zu beteiligen: So die deutsche FDP vor vier Jahren. Sie ist mit ihrer Weigerung nicht schlecht gefahren. Wird sie von vier weiteren Oppositionsjahren profitieren wollen? Wird sie ihrer Basis Kompromisse mit den Grünen oder der SPD ersparen? Ihr Parteichef Lindner erhebt jetzt einmal den Anspruch, Finanzminister zu werden.
Die deutsche Verfassung, das Grundgesetz, würde übrigens auch eine Minderheitsregierung ermöglichen, also eine Regierung, die im Bundestag keine feste Mehrheit hat, sondern für ihre Vorlagen fallweise Mehrheiten finden muss.
Gestürzt werden kann eine deutsche Regierung, ob Mehrheits- oder Minderheitsregierung, nur durch ein „konstruktives Misstrauensvotum“, also nur dann, wenn die Parteien im Bundestag eine Mehrheit für eine andere Regierung bilden können. Das kam vor. Die Regierung von Helmut Schmidt wurde 1982 gestürzt, indem die FDP zu den Unionsparteien wechselte und Helmut Kohl zum neuen Kanzler machte.
Gelingende Koalitionsverhandlungen sind Leistungen der Kompromissbereitschaft und des Verantwortungsbewusstseins. Der Antritt einer neuen Koalitionsregierung kann in der Bevölkerung auch als Chance wahrgenommen werden. Kommt es über die Jahre zur Abnützung an der Macht, ist ein Machtwechsel möglich.
Abnützung an der Macht findet auch in der Schweiz statt. Und das schweizerische Prinzip der unverbindlichen Regierungsbeteiligung führt mehr und mehr zu Blockaden, denn die Parteiführungen sind zugleich frei und gezwungen, ihre radikalen Flügel zu bedienen. Wechselwählerinnen und Wechselwähler interessieren wenig. Es wird nicht um die Mitte geworben, sondern um die Ränder des Meinungsspektrums im Lande. Erste Priorität bekommt, dass der harte Kern der Partei- und WählerInnen-Basis motiviert bleibt und nur ja nicht zu bröckeln beginnt.
Man hat dieses System mitunter damit begründet, dass eine grosse Partei, die in die Opposition ginge, die Regierungspolitik durch Initiativen und Referenden lahmlegen könnte. Das ist wahrscheinlich übertrieben, denn sie würde sich zugleich für die Rückkehr in die Regierung qualifizieren wollen, wozu eine destruktive Politik nachteilig sein könnte. Vor allem aber verliert diese Befürchtung an Relevanz angesichts der realen Schäden, die das Prinzip der unverbindlichen Regierungsmandate verursacht.
Es wäre wohl unrealistisch, in der Schweiz direkt zu Koalitionsverhandlungen und Koalitionsvertrag übergehen zu wollen. Aber eine Verständigung auf einige gemeinsame Ziele wird nötig.