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Der Weg zu einer Neuorientierung der Schweizer Europapolitik.

Fast alle Parteien und Verbände wollen jetzt jede Idee - und wohl auch jede Illusion - austesten, von der sie glauben oder hoffen, dass sie die Schweiz vor einer stärkeren Annäherung an die EU bewahren könnte. Deshalb sind sie nicht bereit, an der Vorbereitung einer Europa-Initiative mitzuwirken.

Operation Libero habe für ihr Projekt einer Europa-Initiative nicht die nötige Unterstützung bekommen, berichtet die “SonntagsZeitung” am 17. April. Und auch die Europäische Bewegung verzichte bis auf Weiteres auf eine Initiative für einen Beitritt zu EWR oder EU.

Im “PolitReflex” wurde wiederholt festgestellt, dass sich die schweizerische Europapolitik in einer Erfahrungsphase befinde. Dennoch sei es sinnvoll, eine Europa-Initiative vorzubereiten, denn man könne sich nicht darauf verlassen, dass Behörden, Verbände und Gewerkschaften rechtzeitig die sich abzeichnenden Ergebnisse dieser Erfahrungsphase erkennten und die Konsequenzen zögen. Man könne eine Initiative immer noch zurückziehen, wenn uns die institutionellen Akteure positiv überraschen sollten.

Nun setzen die massgeblichen Kräfte also voll auf die Behörden und auf sich selbst, und der Bundesrat unterbreitet der EU Vorschläge, die ihm Parteien, Verbände, Gewerkschaften und ein Teil der Experten nahelegen und von denen er annimmt, er könnte in Parlament und Volk eine Mehrheit für sie finden. Realpolitik?

Ist es Realpolitik, wenn man Vorschläge macht, deren Annahme durch die EU eine Überraschung wäre? Innenpolitisch ist es vielleicht nötig. Die europapolitische Überzeugungsarbeit ist an Grenzen gestossen. Man will austesten, was man sich gegenüber der EU leisten kann, und ein Teil des politischen Spektrums in der Schweiz erwartet deren Schwächung durch erstarkende widerständige Staaten wie Ungarn und Polen.

Nun wird die Entwicklung überlagert durch eine Konfrontation mit dem russischen Imperialismus, der sich auch die Schweiz nicht mehr entziehen kann. Sie kann sich auch auf die schweizerische Europapolitik auswirken. Eine grosse Mehrheit der befragten Schweizerinnen und Schweizer erkennt offenbar die Notwendigkeit eines Schulterschlusses der westeuropäischen Rechtsstaaten und Demokratien. Selbst eine engere Zusammenarbeit mit der NATO wird nicht mehr ausgeschlossen.

Deshalb ist nicht unwahrscheinlich, dass es auch ohne bereitstehende Volksinitiative früher als bisher erwartet zu einer Neuorientierung der schweizerischen Europapolitik kommt.

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Ulrich Gut

Ulrich Gut (1952), Dr. iur., wohnt in Küsnacht ZH. Der ehemalige Chefredaktor und Kommunikationsberater kommentiert auf Online Plattformen politische und gesellschaftliche Entwicklungen. Er präsidiert Unser Recht und ch-intercultur. 2009-2020 war er Zentralpräsident von Alzheimer Schweiz.

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