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Der Staat soll bedrängte und bedrohte Gruppen seiner Bevölkerung schützen

Zur Volksabstimmung vom 9. Februar 2020: Mit dem Verbot der Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung wird ein Grundsatz umgesetzt, der für alle bedrängten, diskriminierten und bedrohten Bevölkerungsgruppen zu gelten hat.

Link zur Abstimmungsvorlage.

Leider gibt es in jeder Bevölkerung Gruppen, die von Teilen der Mehrheitsbevölkerung oder von anderen Minderheiten bedrängt, diskriminiert und bedroht werden. Es ist ein Gebot der Ehre und der Selbstachtung, dass sich die Mehrheitsbevölkerung schützend vor diese Gruppen stellt und Aggressoren in die Schranken weist.

Das geht nur auf gesetzlicher Grundlage, mit den Instrumenten des Rechtsstaats. Es wäre falsch, sich auf privaten Widerstand zu verlassen. Die Vorstellung, dass starke Männer und Frauen sich schützend vor Menschen stellen, die beleidigt, diskriminiert oder physisch attackiert werden, mag sozialromantisch sein, aber sie ist für alle Beteiligten und für den Rechtsstaat gefährlich. Gewiss, unsere Gesellschaft braucht mehr Zivilcourage, und es ist stets erfreulich, wenn sie sich zeigt, aber wir können und dürfen unsere Schutzverantwortung nicht an eine ehrenwerte Selbstjustiz delegieren.

Die Strafnorm gegen Rassendiskriminierung wurde unter dem Eindruck des Holocausts, der Shoa, der Vernichtung der Jüdinnen und Juden durch die Nazis, in unser Strafgesetzbuch eingeführt. „Nie wieder!“ „Wehret den Anfängen!“ Man hatte feststellen müssen, dass der antisemitische Ungeist, der zu diesem Verbrechen geführt hatte, mit der Kriegsniederlage der Nazis und Faschisten nicht untergegangen war. Unsere Nachbarländer hatten Verbote erlassen, und die Schweiz sollte nicht zur Basis werden, auf der Neonazis und andere Antisemiten ihre andernorts verbotenen Aktivitäten entfalten würden. Leider zeigen rechtsextreme Umtriebe mit ausländischer Beteiligung in der Schweiz, wie nötig dies ist, und dass unsere Abwehrmassnahmen offenbar noch nicht genügen.

Gleichzeitig stellte man fest, dass auch Angehörige anderer Ethnien und Religionen vermehrt bedrängt, diskriminiert, attackiert wurden. Deshalb beschränkte man die Strafnorm richtigerweise nicht auf den Antisemitismus.

Nun müssen wir leider feststellen, dass es immer mehr zu Übergriffen auf Menschen mit anderer sexueller Orientierung kommt. Nach dem Grundsatz, dass unsere Gemeinschaft bedrängte Gruppen schützt, ist es folgerichtig, die Strafnorm, die sich gegen Diskriminierung wegen Ethnie oder Religion richtet, auf die sexuelle Orientierung auszuweiten.

Die politische Debatte leidet nicht unter dem Antidiskriminierungsartikel. Dies zeigen die direktdemokratischen Auseinandersetzungen. Beispiel Burkainitiative: Die vorgebrachten Argumente richten sich klar gegen eine bestimmte Ausprägung des Islams, und die Initianten waren frei, sie so zur Wirkung zu bringen, dass die nötige Unterschriftenzahl zustandekam.

Seien wir kein feiges Volk! Stellen wir uns vor die Bedrängten unter uns, treten wir den Aggressoren entgegen, mit den Mitteln des Rechtsstaats!

Bild von Ulrich Gut

Ulrich Gut

Ulrich Gut (1952), Dr. iur., wohnt in Küsnacht ZH. Der ehemalige Chefredaktor und Kommunikationsberater kommentiert auf Online Plattformen politische und gesellschaftliche Entwicklungen. Er präsidiert Unser Recht und ch-intercultur. 2009-2020 war er Zentralpräsident von Alzheimer Schweiz.

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