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„Der Tell holt ein verlornes Lamm vom Abgrund, und sollte seinen Freunden sich entziehen?“

Zum Ersten August 2020. Das Gründungsdrama, das die Schweiz Friedrich Schiller verdankt, ist ein Epos des Zusammenstehens und der Verständigung auf gemeinsames Handeln. Trotzdem wurde in politischer Absicht immer wieder das Tellenwort aus dem Zusammenhang gegriffen: "Der Starke ist am mächtigsten allein."

Lesen wir den Dialog zwischen Werner Stauffacher und Wilhelm Tell, in dem es gesprochen wird (erster Akt, dritte Szene):

„STAUFFACHER.
Wir könnten viel, wenn wir zusammenstünden.

TELL.
Beim Schiffbruch hilft der einzelne sich leichter.

STAUFFACHER.
>So kalt verlaßt Ihr die gemeine Sache?

TELL.
Ein jeder zählt nur sicher auf sich selbst.

STAUFFACHER.
Verbunden werden auch die Schwachen mächtig.

TELL.
Der Starke ist am mächtigsten allein.

STAUFFACHER.
So kann das Vaterland auf Euch nicht zählen,
Wenn es verzweiflungsvoll zur Notwehr greift?

TELL gibt ihm die Hand.
Der Tell holt ein verlornes Lamm vom Abgrund,
Und sollte seinen Freunden sich entziehen?
Doch was ihr tut, laßt mich aus eurem Rat,
Ich kann nicht lange prüfen oder wählen,
Bedürft ihr meiner zu bestimmter Tat,
Dann ruft den Tell, es soll an mir nicht fehlen.“

*

Dass der Starke am mächtigsten allein sei, ist im Verlaufe des Dramas weder die Erfolgsstrategie der Eidgenossen noch das letzte Wort des Tells noch die Richtschnur seines Handelns.

Treibende Kräfte des Gründungsepos sind die Stauffachers: Werner und seine Frau Gertrud, die ihn zum politischen Handeln ermutigt: „Sieh vorwärts, Werner, und nicht hinter dich!“ In meiner Jugend wurden tatkräftige Frauen noch „Stauffacherinnen“ genannt.

Schiller – Historiker, der er auch war – hatte sich gründlich mit der Geschichte der Eidgenossenschaft befasst. Deshalb stellte er die Bedeutung des regionalen Adels, der im Schulterschluss mit den Landleuten gegen den Machtanspruch des Hauses Habsburg kämpft, in der Person des Attinghausen dar. Im 20. Jahrhundert wurde dieser verdrängte Teil der Geschichte durch den Schweizer Historiker Roger Sablonier erforscht.

Ergreifend ist die Auseinandersetzung zwischen Ulrich von Rudenz und der von ihm verehrten Berta von Bruneck, die Rudenz davon überzeugt, seine Landsleute zu unterstützen.

Das Schiller-Archiv hat hierzu einen Text unter dem Titel „Charakterisierung von Attinghausen, Rudenz und Bruneck aus Schillers ‚Wilhelm Tell'“ ins Netz gestellt (Link).

*

Schillers Tell ist ein Epos des Zusammenstehens und der Verständigung auf gemeinsames Handeln, geografische, politische, ständisch-soziale Grenzen überwindend. Wer den Tell gegen die heute notwendige Zusammenarbeit der Schweiz in Europa ins Feld führt, handelt gegen den Geist dieses Werks.

Bild von Ulrich Gut

Ulrich Gut

Ulrich Gut (1952), Dr. iur., wohnt in Küsnacht ZH. Der ehemalige Chefredaktor und Kommunikationsberater kommentiert auf Online Plattformen politische und gesellschaftliche Entwicklungen. Er präsidiert Unser Recht und ch-intercultur. 2009-2020 war er Zentralpräsident von Alzheimer Schweiz.

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