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“Das Ständemehr führt dazu, dass eine Minderheit über die Mehrheit entscheidet”

Eine Stellungnahme, die grosse Beachtung verdient: Paul Rechsteiner wendet sich mit grundsätzlichen und verfassungsgeschichtlichen Argumenten gegen die Unterstellung des Vertragsergebnisses der laufenden Verhandlungen mit der EU unter das obligatorische Referendum, somit gegen die Notwendigkeit, dass ihm eine Mehrheit der Kantone zustimmt (Ständemehr). Rechsteiner war 1998 bis 2018 Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds und vertrat die SP 1986 bis 2011 im Nationalrat. 2011 bis 2022 hatte er eines der Sankt Galler Mandate im Ständerat inne.

Auszüge aus Paul Rechsteiners Artikel “Die Schweiz ist kein Ständestaat”, erschienen in der Rubrik “Standpunkt” der “Wochenzeitung (WOZ)” vom 8. August 2024 (Link):

“(…) Politisch kehrt die Forderung, internationale Verträge, insbesondere jene mit der EU, obligatorisch dem Ständemehr zu unterstellen, wie eine Untote alle paar Jahre zurück, parallel zum Aufstieg der SVP. Erfolg hatte sie bisher nicht. Nach dem Volks-Ja zu Schengen von 2005 – am Ständemehr wäre die Vorlage gescheitert – versuchte es die SVP-gesteuerte Auns mit der Initiative «Staatsverträge vors Volk». In der Volksabstimmung erlitt die Initiative 2012 im Verhältnis von drei zu eins Schiffbruch. Darauf probierte es Andrea Caroni (FDP/AR) mit einem Vorstoss im Parlament. Dieser wurde, erst drei Jahre ist es her, im Parlament erledigt, ohne dass es zu einer Volksabstimmung gekommen wäre.

Das Bundesamt für Justiz hält in einem aktuellen Gutachten klar fest, dass es unter der heutigen Verfassung keinen Spielraum dafür gibt, internationale Verträge wie jene mit der EU dem obligatorischen Referendum zu unterstellen, sofern es nicht um den Beitritt zu einer supranationalen Gemeinschaft geht, und ein solcher steht heute nicht zur Diskussion. Bei internationalen Verträgen greift nach der heutigen Verfassung das fakultative Referendum. Beim fakultativen Referendum gilt das Volksmehr, nicht das Ständemehr.

Bei dieser Ausgangslage kann man nur staunen, wenn behauptet wird, dass erst eine Volksabstimmung mit Ständemehr wahre Demokratie sei. Demokratische Entscheide setzen die gleichberechtigte Teilnahme freier Bürgerinnen und Bürger nach dem Prinzip «Eine Person – eine Stimme» voraus («One person – one vote»). Ein Entscheid ist demokratisch legitimiert, wenn er von einer Mehrheit der Stimmenden angenommen wird.

Was bedeutet das Ständemehr für einen demokratisch, also mit Volksmehrheit getroffenen Entscheid? Ist für eine Volksabstimmung das Ständemehr massgebend, zählen für das Ergebnis nicht alle Stimmberechtigten gleich viel. Das Prinzip «Eine Person – eine Stimme» gilt nicht mehr. Die Stimmkraft hängt davon ab, wo man wohnt. Die Stimme einer Urnerin wiegt 41-mal mehr als jene eines Zürchers, die eines Appenzell-Innerrhoders 47-mal mehr als jene einer Zürcherin. Diese Verzerrungen werden mit den demografischen Veränderungen – der Verstädterung – immer krasser. Sie sind heute drei- bis viermal grösser als im Bundesstaat des 19. Jahrhunderts.

Die Folgen der Verzerrung demokratischer Entscheide sind gravierend. Ist das Ständemehr und nicht das Volksmehr massgebend, brauchte es 1955 noch 25,3 Prozent der Stimmberechtigten, um eine Vorlage zum Absturz zu bringen. Heute reichen dazu im Extremfall 17,5 Prozent aus. Es kann also nicht verwundern, dass die Zahl der Verfassungsvorlagen, die am Ständemehr scheitern, obwohl sie das Volksmehr erreicht haben, in den letzten Jahrzehnten stark zugenommen hat. Letztes Beispiel war die Konzernverantwortungsinitiative.

Das Ständemehr führt dazu, dass eine Minderheit über die Mehrheit entscheidet. Das aber ist das Gegenteil des demokratischen Prinzips.

Die Konsequenzen wiegen schwer. Das Ständemehr verschafft auf dem Hintergrund wachsender Verzerrungen zwischen den Regionen den konservativen Kantonen der Inner- und der Ostschweiz Vorrechte, von denen sie in den dynamischen Jahrzehnten des jungen Bundesstaats des 19. Jahrhunderts nicht zu träumen wagten. Der Bundesstaat war ihnen damals gegen ihren Willen aufgezwungen worden. Inhaltlich geht es aber heute nicht mehr wie einst um die konfessionellen Gegensätze zwischen Protestant:innen und Katholik:innen im Kulturkampf, sondern um die immer grössere Blockademacht der konservativen Kantone bei Fragen der Öffnung der Schweiz.

Ironie der Geschichte: Zu den Kantonen, deren Gewicht mit dem Ständemehr ständig zunimmt, gehören jene, die 1971 das Frauenstimmrecht und 1999 die heutige Bundesverfassung ablehnten. So war es nicht gemeint, als unsere Vorfahren mit der Verfassung von 1874 vor genau 150 Jahren die damals fortschrittlichste Verfassung der Welt schufen. Die grösste demokratiepolitische Errungenschaft war die Einführung des fakultativen Referendums. Geleitet war sie von der Erkenntnis, dass das Volksmehr allein echte Demokratie schafft. (…)

Die Schweiz funktioniert dank der Stabilität und der Verlässlichkeit der Institutionen. Zum Zentralgetriebe des Staats gehören die Regeln der Verfassung über die demokratischen Rechte. Die Auns-Initiative, aber auch der Vorschlag Caroni wollten die Verfassung ändern, um das Ständemehr bei internationalen Verträgen einzuführen. Würde die Aufwertung des Ständemehrs nun ohne Verfassungsänderung erfolgen, wäre das nichts anderes als ein stiller Putsch im Herzen des Bundesstaats, am Volk vorbei.

Die SVP verfügt im Parlament nicht über die nötigen Mehrheiten dafür. Verantwortlich wären jene Bürgerlichen im Parlament, die gegen die bisherigen bewährten Regeln der SVP folgen. Das hat die Schweiz nicht verdient: Sie ist eine Demokratie und kein Ständestaat.»

Link zur Biografie Paul Rechsteiners.

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Ulrich Gut

Ulrich Gut (1952), Dr. iur., wohnt in Küsnacht ZH. Der ehemalige Chefredaktor und Kommunikationsberater kommentiert auf Online Plattformen politische und gesellschaftliche Entwicklungen. Er präsidiert Unser Recht und ch-intercultur. 2009-2020 war er Zentralpräsident von Alzheimer Schweiz.

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