Sie befinden sich hier:

Atomwaffen im Kalten Krieg und heute

Die Erfahrung aus dem Kalten Krieg legt nahe, dass das blosse Restrisiko eines Atomwaffeneinsatzes strategisch abhaltend wirkt, selbst wenn ihr Einsatz als unwahrscheinlich betrachtet wird. Können wir uns heute noch darauf verlassen?

Konrad Adenauer, der erste Kanzler der Bundesrepublik, habe geäussert, er könne sich nicht vorstellen, dass ein US-Präsident einen atomaren Schlag gegen angreifende Sowjettruppen befehlen würde. Dies berichtet Henry Kissinger in seinem 2022 erschienenen Buch „Staatskunst – Sechs Lektionen für das 21. Jahrhundert“ (Link zu Rezensionen). Kissinger zitiert Adenauer so: „Ich glaube nicht, dass irgendein amerikanischer Präsident unter welchen Umständen auch immer jemals eine Atomkrieg wegen Berlin riskieren wird. Doch die Allianz bleibt uns wichtig. Uns schützt, dass die sowjetische Führung sich angesichts dieses Elements des Zweifels nicht sicher sein kann.“ (S. 76 der bei Bertelsmann erschienenen deutschen Übersetzung).

Dass die Sowjets trotz konventionell-militärischer Überlegenheit auf einen Vorstoss Richtung Westen verzichteten und es bei Erpressungsversuchen bewenden liessen, war somit, wenn Adenauers Beurteilung nicht ganz abwegig war, nicht auf die Gewissheit, sondern auf das Restrisiko einer atomaren Reaktion der USA zurückzuführen.

Je stärker die russische Armee in der Ukraine unter Druck gerät und je härtere Schläge sie hinnehmen muss, desto eher könnten Putin oder mit der Kriegführung Unzufriedene  erwägen, die Ukraine mit taktischen Atomwaffen anzugreifen. Bereits fordern vereinzelte westliche Strategie-Kommentatoren, es würde nicht genügen, auf einen russischen Atomschlag mit massiver Verstärkung der konventionellen Unterstützung der Ukraine zu reagieren, sondern die Reaktion müsste ebenfalls nuklear sein.

US-Präsident Joe Biden und seine Administration geben deutlich zu erkennen, dass sie eine atomare Eskalation des Ukraine-Kriegs vermeiden wollen. Dies ist auch ein ständiger unausgesprochener Appell an Russland, das nukleare Tabu nicht zu brechen. Die USA wollen verhindern, dass Russland die Ukraine besiegt und dann womöglich gegen das Baltikum, gegen Mittel- und Westeuropa vorstösst, aber sie sind auch daran interessiert, dass Europa und die Weltwirtschaft vor einer katastrophalen nuklearen Eskalation verschont bleiben. Dennoch bleibt aus russischer Sicht ein Restrisiko einer nuklearen Reaktion, falls sie gegen die Ukraine Atomwaffen einsetzen. Der Schritt, sich über dieses Restrisiko hinwegzusetzen, wäre für Putin oder eine andere russische Führung gross, und es ist nicht selbstverständlich, dass die militärischen Verantwortlichen einen Befehl der politischen Führung zum Atomwaffeneinsatz ohne eigene Beurteilung befolgen würden.

Bild von Ulrich Gut

Ulrich Gut

Ulrich Gut (1952), Dr. iur., wohnt in Küsnacht ZH. Der ehemalige Chefredaktor und Kommunikationsberater kommentiert auf Online Plattformen politische und gesellschaftliche Entwicklungen. Er präsidiert Unser Recht und ch-intercultur. 2009-2020 war er Zentralpräsident von Alzheimer Schweiz.

Beitrag teilen

PDF erstellen oder ausdrucken

Schreibe einen Kommentar

Die E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Pflichtfelder sind markiert *

Kommentar abschicken

Ähnliche Artikel

Die Übernahme des „Nebelspalters“ durch Markus Somm ist Anlass, an Bö, Carl Böckli, zu erinnern.

„Gegen rote und braune Fäuste“ lautet der Titel eines Buchs mit politischen Karikaturen von Bö, Carl Böckli (1889-1970). Der bedeutende politische Karikaturist und Satiriker war 1927-1962 Redaktor des „Nebelspalters“. Möge die Neulancierung des „Nebelspalters“ als nationalkonservatives Satireblatt wenigstens neues Interesse an Bö wecken. Ein Besuch im Bö-Archiv in seiner Wohngemeinde Heiden (AR) lohnt sich.

Weiterlesen »