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Europa nach dem Zweiten Weltkrieg – eine haltbare Ordnung?

Fast gleichzeitig wurde in zwei politisch höchst unterschiedlich positionierten Zeitungen für die Entwicklung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg das Wort "Wunder" verwendet: Vom einen Autor für die Versöhnung zwischen Frankreich und Deutschland, vom andern für die Europäische Union.

Christophe Büchi, vormals Westschweiz-Korrespondent der NZZ, erinnert in der „Weltwoche“ 1/2024 an das Versöhnungswerk de Gaulles und Adenauers: „(…) Alles in allem ist die deutsch-französische Aussöhnung eine Art Wundergeschichte. Es tut gut, zu Beginn eines neuen Jahres sich daran zu erinnern. Man sagt sich, dass vielleicht sogar im Ukraine-Krieg oder im Gaza-Konflikt nicht alles Hoffen vergeblich sei. Jedenfalls ist es keine schlechte Sache, gelegentlich in das zarte Flämmchen der Hoffnung zu blasen.“

Heribert Prantl in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 5./6.1.24: „Die Europäische Union ist ein Weltwunder der Neuzeit. Das „europäische Kleinstaatengerümpel“, wie Adolf Hitler es verächtlich bezeichnet hatte, tat sich zusammen; es überwand den Nationalismus und gut gepflegte Feindschaften. Es entstand die Gemeinschaft, die heute EU heißt. Ob es diesem Weltwunder so ergeht, wie es den Weltwundern der Antike ergangen ist – das entscheidet sich wohl im Juni 2024. In den 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union finden dann die Europawahlen statt; gewählt werden die 720 Abgeordneten des Europaparlaments; es ist dies die einzige direkt gewählte supranationale Institution der Welt. (…)“

*

Die Bezeichnung der EU als Weltwunder mag als allzu pathetisch befremden. Aber richtig und wichtig ist, ins  Bewusstsein zu rücken, dass nach dem Zweiten Weltkrieg eine rund 150-jährige Zeit europäischer Volkskriege für schon bald 80 Jahre beendet wurde. Die Zeit der Volkskriege begann mit dem unseligen Angriff einer deutschen Fürstenarmee auf die Truppen der französischen Revolution, die sich als überlegen erwiesen und sogar das westliche deutsche Rheinufer für einige Zeit besetzen konnten. Es folgten Napoleons Kriege, bis hin zum scheiternden Russlandfeldzug und zu seiner Niederlage bei Waterloo. Der Deutsch-Französische Krieg von 1870, etliche weitere Kriege und schliesslich der Erste und der Zweite Weltkrieg.

Der Zusammenschluss zuvor verfeindeter Staaten zu einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (Römer Verträge 1960), die sich erweiterte und sich zu einer Europäischen Gemeinschaft (EG), dann zu einer Europäischen Union (EU) integrierte, und der militärische Zusammenschluss in der NATO haben die Friedensordnung grosser Teile Europas gestärkt. Auch dank der wirtschaftlichen und politischen Integration ist ein Rückfall in ein Europa der Kriege zwischen den west- und mitteleuropäischen „Vaterländern“ kaum mehr vorstellbar.

Der Fortbestand der Europäischen Union ist nicht gesichert, auch wenn kürzlich ein Gipfeltreffen rechtsextremer Parteien in Italien den Eindruck erweckte, dass erst die Führer von AfD und FPÖ offen auf das Ende der EU hin arbeiten. Andere, wie namentlich die grossen italienischen und französischen, halten offenbar eine solche Parole für schädlich in ihren Wahlkämpfen (Link).

Deshalb ist tatsächlich eine solide Partnerschaft zwischen Deutschland und Frankreich die wichtigste, die unverzichtbare Garantie für Frieden in grossen Teilen Europas. Es ist zu beobachten, ob erstarkende rechtsextreme Parteien die alten nachbarschaftlichen Streitgegenstände wieder beleben, etwa die AfD, dass das Elsass einmal deutsch war. Die FPÖ versucht schon einmal, Österreichs Anspruch auf Südtirol neu zu erheben.

Sollte die EU dem Druck von innen – Rechtsextreme – und von aussen – Putin, Trump – nicht standhalten können, bliebe nur, sich dafür einzusetzen und darauf zu hoffen, dass die Partnerschaft Frankreichs und Deutschlands und eine Kerngruppe aus dem integrierten Europa einen Rückfall in die Zeiten der europäischen Volkskriege verhindern und Freihandel und Kooperation in kleinerem Rahmen weiterführen würden.

Mehr dazu:

„Die Grundhaltung gegenüber Europa und seinen Zukunftsperspektiven überprüfen“ (Link)

„Verständigen sich Rechtsaussen-Parteien auf gemeinsame Europa- und Russland-Politik?“ (Link)

„Goethe an der Front“ (Link)

Bild von Ulrich Gut

Ulrich Gut

Ulrich Gut (1952), Dr. iur., wohnt in Küsnacht ZH. Der ehemalige Chefredaktor und Kommunikationsberater kommentiert auf Online Plattformen politische und gesellschaftliche Entwicklungen. Er präsidiert Unser Recht und ch-intercultur. 2009-2020 war er Zentralpräsident von Alzheimer Schweiz.

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