Schweizerische Bundesverfassung: Doppelt legitimiert, aber schutzlos

Die Normen der Schweizerischen Bundesverfassung sind doppelt legitimiert: Durch das Volksmehr und das Ständemehr. Umso erstaunlicher ist, dass sie überhaupt nicht vor Missachtung durch das Parlament geschützt sind. Eine Verfassungsgerichtsbarkeit würde dies ändern, aber deren Einführung lehnte das Parlament mehrmals ab.

Andreas Kley spricht Klartext. Auszug aus dem Interview, das NZZ-Redaktorin Katharina Fontana mit dem Professor für öffentliches Recht, Verfassungsgeschichte sowie Staats- und Rechtsphilosophie der Universität Zürich führte (erschienen am 13.3.24, Link):

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Fontana: Im Parlament streitet man sich öfters über die Umsetzung von Volksinitiativen, aktuelles Beispiel ist jene für ein Tabakwerbeverbot. Wie frei ist das Parlament bei der Auslegung des Volkswillens?

Kley: Die Interpretation der Verfassung ist Sache der Bundesversammlung, diese hat einen von niemandem kontrollierten Spielraum. Sie entscheidet stets nach politischen und nicht nach verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten. Die Parlamentarier berufen sich regelmässig nur dann auf die Verfassung, wenn es ihrem eigenen Anliegen dient. Wenn das nicht der Fall ist, sagen sie, es brauche eine pragmatische Lösung. Entscheidend ist, ob das Anliegen eine Mehrheit findet, unabhängig davon, was in der Verfassung steht. Das ist ernüchternd.

F: Parlamentarier sind eben Politiker.

K: Das stimmt. Aber sie haben auf die Verfassung und auf die Bundesgesetze ihren Eid abgelegt. Dieser Eid ist ernst zu nehmen, und er ist die allerletzte Sicherung.

F: Die Initiativkomitees ihrerseits versuchen, das Parlament zu umgehen. Indem sie wie bei der AHV-Initiative vorschreiben, wann die Reform in Kraft treten muss. Oder sie verlangen, dass der Bundesrat ihre Initiative innert einer gewissen Frist via Verordnung umsetzt. Funktioniert das?

K: Nicht unbedingt. Es kommt auf die Interessenlage an. Wenn Bundesrat und Parlament der Ansicht sind, man könne eine Initiative nicht in dieser Form umsetzen, dann kann man nichts machen. Das Politische kann das Rechtliche übersteuern.

F: Daneben gibt es Initiativen, die so präzis formuliert sind, dass man sie direkt anwenden kann – zum Beispiel das Minarettverbot.

K: Beim Minarettverbot kann niemand behaupten, es sei nicht direkt anwendbar – also: Juristen können das schon behaupten, aber eigentlich ist es klar. Die Durchsetzungsinitiative der SVP beispielsweise war ebenfalls präzis formuliert. Sie regelte detailliert, in welchen Fällen die Gerichte eine Landesverweisung aussprechen müssen, und hielt fest, dass diese Bestimmungen direkt anwendbar seien. Diese Feststellung allein reicht allerdings nicht. Damit eine Verfassungsnorm direkt anwendbar ist, braucht es eine passende Infrastruktur an schon bestehenden Normen.

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F: Welches ist für Sie der krasseste Fall einer Initiative, die das Parlament nicht umgesetzt hat?

K: Es sind zwei: die Alpeninitiative von 1994 und die Masseneinwanderungsinitiative von 2014. Die erste wurde vom sachlichen Umfang her zu etwa 5 Prozent umgesetzt, und bei der zweiten sieht es noch viel schlechter aus. Bei der Alpenschutzinitiative hat man zwar einen grossen Aufwand betrieben mit Schwerverkehrsabgabe, Neat und Verlagerung auf die Schiene. Doch in der Realität ist man weit von dem entfernt, was in der Verfassung steht.

F: Der Alpenschutzartikel steht seit dreissig Jahren, der Zuwanderungsartikel seit zehn Jahren in der Verfassung. Der Wille, sie umzusetzen, fehlt. Wäre es da staatspolitisch nicht geboten, die beiden Artikel zu streichen?

K: Das sollte man tatsächlich tun. Man sollte dem Volk vorschlagen, die entsprechende Bestimmung entweder anzupassen oder aufzuheben. Es wäre ein guter Weg, um der Verfassung wieder mehr Gewicht zu geben. Wenn das Volk das aber verweigert, so entsteht eine politisch-rechtliche Aporie: Soll das Anliegen nun vollständig umgesetzt werden, oder kann man mit dem Widerspruch fortfahren? Die Politiker setzen sich nicht diesem Risiko aus.

F: Die erwähnten zwei Initiativen wurden nicht umgesetzt, weil sie gegen die bilateralen Verträge mit der EU verstossen. Wie soll man den Konflikt zwischen Initiativen und Völkerrecht lösen?

K: Beim zwingenden Völkerrecht hat man das Initiativrecht bereits an die Leine genommen, solche Initiativen werden für ungültig erklärt. Die bilateralen Verträge mit der EU sind kein zwingendes, aber faktisch doch ein sehr bedeutsames Völkerrecht. Da geraten sich zwei Rechtsordnungen in die Quere: auf der einen Seite die Verfassung, an die man sich halten muss, auf der anderen Seite die abgeschlossenen Verträge. Derzeit gibt es keine befriedigende Lösung für diese Fälle, man wurstelt sich durch.

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Kommentar:

Es wird schwerlich zu einem neuen Versuch kommen, eine Verfassungsgerichtsbarkeit einzuführen, indem man Artikel 190 der Bundesverfassung aufhebt, der das Bundesgericht zwingt, auch verfassungswidrige Gesetzesbestimmungen und Staatsvertragsnormen anzuwenden. Dies wäre eine Machteinbusse des Parlaments, und diese wird es auch künftig ebenso ablehnen, wie eine Mehrheit der Kantone eine Verfassungsrevisionsvorlage verwürfe, ihr Machtinstrument Ständemehr zu schwächen oder gar abzuschaffen. Freiwilliger Machtverzicht ist sehr selten…

Sollte ein Interesse daran bestehen, einen wenn auch nur schwachen Schutz der Verfassung vor verfassungswidriger Gesetzgebung einzuführen, könnte es sich deshalb wohl nur um ein parlamentarisches Verfahren handeln: Vielleicht um die Einführung eines gemeinsamen Gremiums von National- und Ständerat, das Gesetzesvorlagen auf Verfassungsmässigkeit prüfen würde und bestimmen könnte, dass verfassungswidrige Gesetzesbestimmungen nur mit qualifizierten Mehr, zum Beispiel Zweidrittels-Mehr jeder Kammer,  beschlossen werden dürften.

Faktum bleibt vorerst, dass das Dokument «Bundesverfassung» nicht die Verfassungswirklichkeit der Schweiz wiedergibt. Materielle Verfassung der Schweiz ist vielmehr das Gesetzes- und Staatsvertragsrecht.

Man mag dies auch als Korrelat zur weitgehenden Schrankenlosigkeit des Initiativrechts sehen. Wenn Stimmberechtigte einer radikalen, zum Beispiel völkerrechtswidrigen oder faktisch nicht umsetzbaren Volksinitiative zustimmen, müssen sie nicht damit rechnen, dass diese tatsächlich so wirksam wird, wie sie formuliert ist. Dies kann die Bereitschaft zur Abgabe von Proteststimmen fördern. Zwar ist damit zu rechnen, dass die meisten Stimmberechtigten die Umsetzung einer angenommenen Volksinitiative erwarten, und dass eine Schlecht- oder Nichtumsetzung bei Teilen der Stimmberechtigten zu Staatsverdrossenheit führt.

Nach der faktischen Nichtumsetzung der Masseneinwanderungsinitiative schien es aber, dass eine Mehrheit der Stimmberechtigten Verständnis dafür entwickelte. Ein Versuch, gegen das Gesetz, das infolge dieser Initiative erlassen wurde, das Referendum zu ergreifen, wurde aufgegeben, und die Parteien, deren Vertreterinnen und Vertreter in den Räten diese faktische Nichtumsetzung beschlossen, wurden in den folgenden Wahlen nicht abgestraft.

 

 

 

 

 

Vielen Dank fürs Lesen.

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