Hitlers kampfloser Einmarsch in Tschechien – ein Modell für Putin?

Ein Diktator kann durch Erpressung einen kampflosen Einmarsch seiner Truppen in ein anderes Land erzwingen. So ausgeführt durch Hitler im März 1939 gegenüber dem tschechischen Teil der damaligen Tschechoslowakei. Was ist zu tun, um Putin an einem solchen Vorgehen zu hindern?

Auszug aus dem Artikel «Der Weg in den Krieg 1939» des Politischen Archivs des deutschen Auswärtigen Amts (Link):

«Dem Angriff Polens durch die Wehrmacht ab dem 1. September 1939 ging eine Reihe außenpolitischer Maßnahmen voraus, die die Expansionsbestrebungen Deutschlands auch mit kriegerischen Mitteln ankündigten. Hierzu zählt der deutsche Einmarsch in die Tschecho-Slowakei im März 1939. Deutschland hatte sich im Münchener Abkommen vom 29. September 1938 unter dem Vorwand des Schutzes der deutschen Minderheit große Teile der Tschechoslowakei angeeignet. Am 14. März 1939 erklärte die Slowakei unter dem Einfluss der deutschen Regierung ihre Unabhängigkeit, und einen Tag später wurden Staatspräsident Emil Hácha und Außenminister Frantisek Chvalkovský von Prag nach Berlin zitiert, um dort unter größtem Druck am 15. März 1939 die anliegende Erklärung gemeinsam mit Hitler und Außenminister Joachim von Ribbentrop zu unterzeichnen. Bedroht mit Krieg und der Bombardierung Prags erlitt Hácha im Verlauf der nächtlichen Verhandlungen in der Reichskanzlei einen Herzanfall, wurde jedoch wiederbelebt, um – so der verschleiernde Wortlaut – „das Schicksal des tschechischen Volkes und Landes vertrauensvoll in die Hände des Führers des Deutschen Reiches“ zu legen. Noch in derselben Nacht begann der Einmarsch der Wehrmacht in das fortan als „Protektorat Böhmen und Mähren“ in Abhängigkeit von Deutschland verwaltete tschechische Gebiet. Als deutlich wurde, dass voraussichtlich Polen das nächste Ziel der deutschen Aggression werden würde, gaben Briten und Franzosen kurz darauf entsprechende Beistandserklärungen ab.»

Wenige Tage zuvor hatte Hitler den «Anschluss» Österreichs erzwungen: «Am 11. März 1938, kurz vor 20 Uhr, gab (der österreichische) Bundeskanzler Schuschnigg auf. Aus dem Büro, in dem sein Vorgänger ermordet worden war, wandte er sich mit gebrochener Stimme über das Radio an die Bevölkerung: „Der Herr Bundespräsident beauftragt mich, dem österreichischen Volke mitzuteilen, dass wir der Gewalt weichen!“ Auf Druck aus Deutschland ernannte daraufhin Bundespräsident Wilhelm Miklas den österreichischen Nationalsozialisten Arthur Seyß-Inquart zum neuen Bundeskanzler. Am 12. März marschierten Soldaten der Wehrmacht und deutsche Polizei mit rund 65.000 Mann in Österreich ein.» (Link)

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Muss damit gerechnet werden, dass Putin ähnlich vorgehen kann? Dass er zum Beispiel Estlands Staatspräsidenten Alar Karis und Ministerpräsidentin Kaja Kallas nach Moskau bestellt, ihnen einen sofort umsetzbaren Einsatzplan zur Bombardierung Estlands präsentiert und sie vor die Wahl stellt, einem Einmarsch russischer Truppen zuzustimmen oder schwere Zerstörungen und katastrophale Verluste an Menschenleben hinzunehmen? Die harte Linie, die Estland gegenüber Russland fährt und von den Bündnispartnern fordert, lässt vermuten, dass sich die estnische Staatsführung nicht nach Moskau befehlen und dort erpressen liesse. Aber die Nato täte wohl gut daran, sich auf einen solchen Versuch Putins vorzubereiten.

In den Nachbarstaaten Russlands, gegen die Putin und seine Unterführer die krassesten Drohungen ausgestossen haben – in den baltischen Staaten und in Polen -, stehen Nato-Truppen. Um Erpressung zu erschweren, müssten die Nato und ihre Mitgliedstaaten beschliessen, dass Verhandlungen mit Russland über territoriale und militärische Forderungen nur durch die Nato geführt werden, und dass somit keine Regierung in der Lage ist, mit Russland den Verzicht auf militärischen Widerstand zu vereinbaren. Vielleicht haben sie dies ja schon beschlossen.

Ein solcher Beschluss würde es auch Orban erschweren, sein Land überraschend an die Seite Putins zu führen, um Teile des früheren Grossungarns, die nach dem Ersten Weltkrieg verloren wurden, zurückzugewinnen.

Erpressung kann dadurch nicht restlos ausgeschlossen werden. Putin kann ein Volk durch mediale, psychologische Kriegführung derart bedrohen, dass es seine Regierung dazu drängt, von der Nato den Rückzug ihre Truppen zu verlangen und Putins Vormarsch hinzunehmen. Aber immerhin lässt sich eine überstürzte, dramatische Entwicklung, wie es am 15. März 1939 zwischen Hitler und Hacha stattfand, verhindern.

Entscheidend ist letztlich, dass Putin keine Gewissheit erlangt, Nato-Territorien ohne schwere Verluste oder gar kampflos einnehmen zu können. Diese Ungewissheit hielt die Sowjetunion vor einem Vorstoss nach Westen ab, obwohl stets unsicher war, dass die USA zum Schutz der europäischen Verbündeten notfalls auch Atomwaffen eingesetzt hätten.

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Der «Anschluss» Österreichs und der Einmarsch in die Tschecho-Slowakei bewegte auch die Schweiz. Am Tag nach Hachas Verzicht auf Widerstand sprach Bundesrat Hermann Obrecht in einer Rede den denkwürdigen Satz: «Wir Schweizer werden nicht zuerst ins Ausland wallfahren gehen.» (Link)

 

 

 

Vielen Dank fürs Lesen.

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