Es war vielleicht die wichtigste Pflicht des neutralen Staates, sein Staatsgebiet keiner Kriegspartei zu überlassen. Auch keine Teile davon.
Dies würde voraussetzen, dass der neutrale Staat militärisch in der Lage wäre, sein Territorium an der Landesgrenze – und nicht erst im Alpenréduit – gegen eine angreifende Kriegspartei erfolgreich zu verteidigen.
Die Schweiz als Kleinstaat vertrat immer den Standpunkt, dass eine andere Neutralitätspflicht, nämlich kein Militärbündnis einzugehen, dahinfalle, wenn sie angegriffen werde. Und es ist schon lange klar, dass dieser Fall vorbereitet werden muss. So plante die Schweiz vor dem Zweiten Weltkrieg eine gemeinsame Verteidigung mit Frankreich gegen das Hitler-Reich. Nach Frankreichs Kapitulation fielen diese Pläne in die Hände der Deutschen, und die Schweizer Armee bezog das Alpenréduit, weil es unmöglich gewesen wäre, bei einem Angriff von Wehrmacht und SS ab Landesgrenze Widerstand zu leisten und das Mittelland erfolgreich zu verteidigen. Als politisches und strategisches Ziel blieb, ein reduziertes Staatsgebiet zu behaupten, dessen militärische Verteidigung man für möglich hielt.
Die Schweiz hätte also bei einem Angriff von Wehrmacht und SS ihre Neutralitätspflicht, keiner Kriegspartei Teile ihres Staatsgebiets zu überlassen, nicht erfüllen können.
Es ist wohl eine Selbstverständlichkeit, dass eine Studienkommission, die neue Grundlagen für die Entwicklung der Sicherheitspolitik und der Armee legt, aufarbeiten muss, wie sich die Voraussetzungen der militärischen Verteidigung des Staatsgebiets ab Landesgrenze entwickelt haben. Nach verbreiteter Auffassung ist unwahrscheinlich, dass die Schweiz allein angegriffen wird. Wahrscheinlicher ist, dass ein Angriff auf die Schweiz im Verlauf eines Kriegs zwischen grossen Kriegsparteien erfolgt, primär aus strategischen Gründen, nicht aus politischen.
Militärtechnisch haben sich die Voraussetzungen einzelstaatlicher Verteidigung ab Landesgrenze seit dem Zweiten Weltkrieg laufend verschlechtert. Truppen und Infrastruktur eines Kleinstaats können auf immer grössere Distanz beschossen werden, lange bevor feindliche Bodentruppen die Grenze des angegriffenen Staates überschreiten. Und wenn es soweit kommt, kann die Schweiz ihre eigenen Bodentruppen, ihre eigenen Panzer nur bewegen, wenn sie die Lufthoheit hat. Auch waffentechnisch ist der Kleinstaat nicht in der Lage, mit den Gross- und Supermächten Schritt zu halten.
Würde man daraus schliessen, es sei für einen Kleinstaat sinnlos, sich militärisch auf den Verteidigungsfall vorzubereiten, wäre dies das Ende der Neutralität. Das Territorium der Schweiz stünde jener Kriegspartei zur Verfügung, die zuerst die Schweizer Grenze überschreitet. Möglich würde auch, dass Schweizer Territorium zu Teilen durch beide Kriegsparteien besetzt würde, und dass die Schweiz so zum Kriegsgebiet würde, wie im Zweiten Koalitionskrieg am Ende des 18. Jahrhunderts (Link).
Bleibt die Schweiz dabei, sich militärisch auf den Verteidigungsfall vorzubereiten, wird die Neutralität darauf beschränkt werden müssen, sich nicht an „fremden Händeln“** zu beteiligen, die nichts mit der Sicherheit der Schweiz zu tun haben. Die Schweiz muss jede Vorbereitung zur Zusammenarbeit mit der NATO und Nachbarstaaten treffen, die bei realistischer Sicht auf den Verteidigungsfall nötig ist. Dabei wird sich zeigen, ob die Partner, die die Schweiz braucht, Gegenleistungen erwarten.
* Link zum Bericht von Redaktor Beni Gafner im Tages-Anzeiger.
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** À propos „fremde Händel“: Der Verteidigungskampf der Ukraine fällt nicht in die Kategorie „fremde Händel“. Er hat durchaus mit der Sicherheit der Schweiz zu tun: Sicherheit des demokratischen Europa bedeutet Sicherheit für die Schweiz. Die Schweiz täte deshalb gut daran, der Weitergabe schweizerischer Waffen an die Ukraine zuzustimmen. Wenn Russland die Eroberung der Ukraine doch noch gelingt und sich neue imperialistische ziele setzt, wird der Verteidigungsfall wahrscheinlicher – und damit auch die Angewiesenheit der Schweiz auf Solidarität der NATO-Staaten. Der Bundesrat setzt mit seiner Verweigerungshaltung in der Waffenfrage diese Solidarität aufs Spiel.