Der Nationalrat stimmte am 13.6.24 mit 118 zu 69 Stimmen, bei 3 Enthaltungen, einer Motion seiner Sicherheitspolitischen Kommission zu: „Fokussierung auf die verfassungsmässigen Aufgaben der Armee. Keine Teilnahme an Nato-Bündnisfallübungen“. SP und SVP, die bereits in der Sicherheitspolitischen Kommission die Mehrheit für diese Motion bildeten, sind offenbar der Meinung, es gehöre nicht zu den „verfassungsmässigen Aufgaben der Armee“, sich auf die Verteidigung ab Landesgrenze vorzubereiten – welche nur mit Nato-Unterstützung möglich ist.
Nationalrat Thomas Hurter (SVP, SH) fragte Bundesrätin Viola Amherd: „Können Sie bestätigen, dass bei Annahme der Motion die Übungen weiterhin so durchgeführt werden können, wie dies im heutigen Rahmen gemacht wird?“ Offenbar wäre ihm daran gelegen gewesen. Die Verteidigungsministerin antwortete:
„Wir könnten auch weiterhin an den gleichen Übungen teilnehmen wie in der Vergangenheit. Aber solche gibt es fast keine mehr, weil aufgrund der veränderten geopolitischen Lage und der instabilen Sicherheitslage die Nato praktisch in allen Übungen auch Artikel-5-Elemente drin hat. Dann steht irgendwo in der Übungsanlage „Bündnisfall“ oder „Artikel-5-Übung“, was aber nur einen Teil der Übung betrifft. Bei dieser Motion, die derart rigide formuliert ist, könnten wir in diesen Fällen überhaupt nicht mehr teilnehmen, auch wenn wir nur an anderen Teilen der Übung dabei sein wollen.“ Link zum Protokoll der Debatte im Amtlichen Bulletin.
Der Entscheid ist ein krasser Fall von „unheiliger Allianz“. SP und SVP verbündeten sich, indem sie ihren unzeitgemäss gewordenen Traditionen folgten: Die SP im Sinne ihrer überkommenen, die Schweiz und ihre Neutralität überschätzenden Friedenspolitik, die SVP nach ihrem militärisch aus der Zeit gefallenen Neutralitätsdogma.
Sicherheitspolitisch ist die SVP offenbar der Reduitstrategie verbunden – einer Strategie, die schon während des Zweiten Weltkriegs für Bundesrat und General zweite Wahl war. Der Rückzug des Gros der Armee in den Alpenraum wurde befohlen, nachdem Frankreich als Partner, mit dem man Verteidigung ab Landesgrenze vorbereitet hatte, vor Deutschland kapituliert hatte. Reduit bedeutet Überlassung grosser Landesteile an den Angreifer, mit allen brutalen Folgen für die dort lebende Bevölkerung. Und die militärtechnischen Voraussetzungen, sich im Reduit zu behaupten, haben sich seit den Vierziger Jahren verschlechtert: Reduit bedeutet Isolation des Gros der Armee, eng zusammen mit einheimischer und geflohener Zivilbevölkerung, mehr und mehr abgeschnitten von Nachschub und exponiert für moderne feindliche Aufklärung und Waffeneinwirkung, wie sie die russische Armee gerade in der Ukraine praktiziert.
Die Neutralität verlangt vom neutralen Staat, keiner Kriegspartei Zugang zu seinem Staatsgebiet zu geben. Sie verlangt somit Verteidigung ab Landesgrenze. Durch den Rückzug ins Reduit wird diese Neutralitätspflicht verletzt. Die Verteidigung ab Landesgrenze mit einem Partner wurde deshalb immer als neutralitätskonform betrachtet. Dann muss sie aber auch vorbereitet und geübt werden können.
Auch wenn die Schweiz an Bündnisfall-Übungen teilnimmt, kann sie neutral bleiben, indem sie keine Truppen entsendet, wenn für die Nato der Bündnisfall eintritt. Dies beruht allerdings auf der Annahme, dass die Nato einen Angriff auf die Schweiz trotzdem, im eigenen strategischen Interesse, als Bündnisfall behandelt.
„Neutralitätsinitiative – wäre die Reduitstrategie wieder möglich?“ (Link)
„Verteidigung der Neutralität – Verteidigung des Staatsgebiets“ (Link)
„Verteidigungsvorbereitung mit dem Ausland – von General Guisan bis heute“ (Link)
„CH-Sicherheitspolitik: Jetzt über die Nato und mit ihr konkret werden“ (Link)